Gewohnheiten lassen sich nur schwer gänzlich ablegen.
Auch Estinien Varlineau, der Mann, der einst als stärkster Drachentöter der Heiligen Stadt Ishgard bekannt war, ließ sich von alten Gewohnheiten leiten, welcher er sich noch nicht vollkommen entledigen konnte. Hatte er seine Rüstung als Drachenreiter auch schon längst abgelegt, so widmete er dennoch jeden freien Moment der körperlichen Ertüchtigung.
Dieses höllische Training war ein Erbe seiner Kindheit. Seit seine gesamte Familie von Nidhogg, einem der sieben Hohen Drachen, umgebracht worden war, quälte er sich tagein, tagaus, um die für seine Rache notwendige Macht zu erhalten. Auch nachdem er als junger Mann seinen damaligen Meister verlassen hatte, änderte sich nichts an seiner Routine. Und er hätte wohl im Kampf mit den übermächtigen Drachen mehr als einmal sein Leben gelassen, wenn er nicht so streng mit sich selbst gewesen wäre.
Neben alten Gewohnheiten gesellten sich auch neue dazu – wie beispielsweise der Abendtrunk. Als er sein Leben noch uneingeschränkt dem Kampf gegen die Drachen hingab, sah man ihn selbst an freien Tagen nur dann in einer Schenke, wenn er von einem Kameraden dazu genötigt wurde. Doch scheinbar vermochte die Reise, die Estinien nach dem Ende des Drachenkriegs begann, selbst sein von Rache und Pflicht vernarbtes Herz zu erweichen. Inzwischen teilte er gar die Ansicht, dass ein Trunk zum Ende eines jeden guten Tages gehöre – von Ausnahmesituationen abgesehen, versteht sich.
Als Estinien von seiner Expedition zum Rande des Universums zurückkehrte, beschloss er auf Rat Vrtras, des Magistrats von Radz-at-Han, auf Thavnair zu verweilen. So fand er sich auch an jenem Tag nach seinem Training allein in seinem Zimmer in der Herberge mit einem gefüllten Becher in der Hand. Vor ihm lag getrockneter Tintenfisch, den er von örtlichen Fischern als Zwischenmahlzeit erstanden hatte. Während er diese Art der Köstlichkeit bereits im Fernen Osten zu kennen und schätzen gelernt hatte, war das Getränk in seinem Becher eine lokale Spirituose, die ihm neu war. Die werten Alchemisten von Radz-at-Han hielten sich beim Brauen nur selten zurück, wodurch zuweilen Getränke entstanden, die eher an ein Experiment aus dem Tiegel als an eine köstliche Erfrischung erinnerten. So legte sich binnen weniger Momente ein sanfter Nebel über Estiniens erschöpfte Gedanken und schon bald übermannte ihn ein wohliger Schlaf.
Die gedankenleere Welt seines Schlummerns wich rasch einem Traum, in welchem er sich in erbittertem Kampf mit einem seiner ehemaligen Erzfeinde wiederfand. Als „Azur-Drachenreiter“, der seine Macht direkt aus dem Auge Nidhoggs schöpft, war er imstande, die Gefühle zu spüren, die in den Rufen der Drachen widerhallten. In jedem Brüllen fand er nichts als Hass und Mordabsicht, gerichtet gegen ihn allein.
Sein Gegenüber stürmte mit gefletschten Zähnen auf ihn zu, worauf der Drachenreiter mit einem gekonnten Sprung auswich. Noch in der Luft drehte er seinen Körper und nahm seine Lanze zur Hand, magisch verstärkt durch Nidhoggs Auge. Mit aller Kraft stürzte er auf seinen Angreifer herab. Ein funkelnder Schweif, ähnlich einer Sternschnuppe, bildete sich hinter ihm, sein Ziel nun direkt vor ihm: Eine Schwachstelle am Nacken, genau zwischen zwei Halswirbeln des Drachen. Selbst der zäheste ihrer Art konnte einen solchen Angriff nicht unbeschadet überstehen. Mit dem Aufprall des Drachenreiters bohrte sich die Spitze seines Speers durch die harten Schuppen der Bestie und direkt in das Fleisch. Gleichzeitig entlud er die in seiner Waffe aufgestaute magische Energie in einer gewaltigen Explosion, die die Knochen des Drachen geradezu pulverisierte. Wahrlich – ein Jäger, der soeben seine Beute erlegt hatte. Jene Beute ließ nun einen schmerzerfüllten Schrei von sich und schüttelte verzweifelt ihren Körper in der Hoffnung, ihr Angreifer ließe sich so vertreiben. Dieses letzte Aufbegehren dauerte jedoch nur kurze Zeit an, und bald schon fiel der riesige Körper des Drachen mit einem lauten Schlag leblos zu Boden.
Der Angriff ging allerdings auch am Sieger nicht spurlos vorbei. Just in dem Moment, als er vom Rücken des erlegten Drachen herabsprang, durchzog ein heftiger, stechender Schmerz seine Brust, welcher ihn in die Knie zwang. Dem Drachenreiter war der Ursprung dieses Schmerzes nicht unbekannt. Auslöser war die Quelle seiner Macht, das Auge seines Erzrivalen Nidhogg. Seine gewaltige Magie verlieh ihm übernatürliche Kraft, ja, doch der Hass und Groll, welcher jener Magie innewohnte, zerfraß nach und nach seinen Geist und Körper. Seine Intuition malte ihm ein klares, und doch rabenschwarzes Bild seiner Zukunft: Sollte er sich weiter dieser Macht bedienen, würde er bald als reine Marionette, als Schatten des hasserfüllten Drachen enden.
„Halt gefälligst den Mund, Nidhogg ...!“
Durch zusammengepresste Zähne machte der Drachenreiter seinen Widerstand deutlich und konnte den Schmerz etwas abschwächen, doch gänzlich ließ sich der Einfluss Nidhoggs nicht tilgen.
„Vielleicht ist es an der Zeit, dem Ganzen ein Ende zu bereiten ...“
Mit diesen Worten lehnte sich der Drachenreiter an den Leichnam der soeben von ihm erlegten Bestie und schloss seine Augen, um seinem erschöpften Körper etwas Erholung zu gönnen.
Als er aus seinem tiefen Schlaf erwachte, fand er sich in einem ihm unbekannten Raum wieder. Unter sich spürte er weiche Tierfelle, welche die Härte des darunter befindlichen Holzbodens etwas abmilderten. Der Drachenreiter setzte sich auf und begutachtete seine Umgebung. In seinen Augen spiegelten sich zahllose Tische und Stühle sowie ein langer Tresen wider. Die starken Wein- und Fleischdüfte in der Luft ergänzten das Bild und ließen nur einen Schluss zu: Er befand sich in einer Schenke.
„Vater! Er ist aufgewacht ...!“
Die Stimme einer jungen Frau drang an sein Ohr, gefolgt vom Stampfen hektischer Schritte. Sein Blick suchte den Ursprung jener Geräusche und fand einen Mann mittleren Alters, der auf ihn zu rannte.
„Haldrath!“
Als der Drachenreiter diesen Namen hörte, wurde ihm erst wieder bewusst, wer er eigentlich war.
Ritter Haldrath – einer der Reichsgründer Ishgards, welcher gemeinsam mit König Thordan den Hohen Drachen Ratatoskr erschlagen hatte. Darüber hinaus war es ihm gelungen, Nidhogg beide Augen zu rauben und so zum ersten Azur-Drachenreiter der Geschichte zu werden. Sich seiner Situation nun bewusst, lichtete sich auch langsam der Nebel um seine Gedanken und er erkannte den Mann, welcher besorgt auf ihn herabblickte.
„... Ah, Graf Aureniquart.“
Aureniquart de Cordillelot – bis vor kurzem diente er als einer der zwölf Ritter unter König Thordan, doch nach der Schlacht mit Nidhogg legte er seinen Titel ab und verlor so seinen Rang.
„Verzeiht, aber ich bin kein Graf mehr, mein Herr. Ich bin nichts weiter als der Eigentümer dieser bescheidenen Schenke.“
Seit mehr als zwanzig Jahren war Haldrath ohne Unterlass allein umhergereist, um Drachen zu erlegen. Selbst der stärkste Krieger benötigt jedoch Nahrung, und so besuchte er ab und zu verschiedene abgelegene Siedlungen. Dort kamen ihm auch Gerüchte über seine ehemaligen Mitstreiter zu Ohren. Als er zum ersten Mal hörte, dass aus Aureniquart ein Schankwirt geworden sei, konnte er es kaum glauben, doch nun hatte es ihn tatsächlich in eben jene Schenke verschlagen.
„In dem Fall bin ich auch nicht mehr dein Herr. Aber sag mir, wie bin ich hierhergekommen ...?“
Auf diese Frage hin zeigte Aureniquart auf die junge, schwarzhaarige Frau, die etwas abseits der beiden Männer stand.
„Berteline – meine Tochter – hat während ihres Trainings Euren kraftlosen Körper neben dem eines erschlagenen Drachen gefunden ... Trotz meines ausdrücklichen Widerspruchs will sie unbedingt Tempelritterin werden und übt daher tagtäglich den Umgang mit der Lanze.“
Mit einem Anflug an Nervosität in der Stimme setzte Berteline die Erklärung ihres Vaters fort.
„M-Mein Vater hat mir von klein auf von Euren Taten erzählt, Herr Haldrath. Für jemanden wie mich, die Drachentöterin werden will, gibt es kein größeres Vorbild als Euch.“
Ein dumpfer Schmerz machte sich in der Brust des Drachenreiters breit, als er auf das aufgeregt erklärende Mädchen blickte. Ihre vor Leidenschaft strahlenden Augen weckten in ihm Erinnerungen an eine Zeit, in welcher auch seinem Blick ein ähnliches Funkeln innewohnte.
„Als ich Euch dort liegen sah ... war mein erster Gedanke, Euch in das Hospital der Kongregation zu bringen, doch Ihr habt mit schmerzverzerrter Miene den Namen meines Vaters gemurmelt, also brachte ich Euch hierher.“
„Das Glück meint es wohl gut mit mir, dass die Tochter eines alten Freundes meinen erschöpften Körper fand, und nicht einer dieser verfluchten Drachen ...“
Berteline schüttelte vehement den Kopf.
„Es war nicht nur Glück. Ich fand Euch dank einer Stimme.“
„Hat der kalte Wind Coerthas meine Stimme etwa so weit getragen?“
„Nicht doch ... Wie erkläre ich es nur am besten? Es war, als hallte ein Sturm inmitten meines Kopfes wider ...“
Ah, auf welch wundersame Pfade das Schicksal einen doch führt ...
Haldrath blickte gen Himmel und dankte Halone, ihn an diesen Ort geführt zu haben. Er wusste nun, dass er diesen beiden alles Weitere überlassen konnte. Er legte seinen Arm an seine Brust und öffnete den Mund.
„Berteline, was du vernahmst, war der Wille Nidhoggs, welcher aus seinem Auge strahlt ...“
Dort, in seiner Brust, befand sich ein außergewöhnlicher Fremdkörper, welcher mit der silbernen Rüstung des Drachenreiters verschmolzen war. Es war das Auge Nidhoggs, welches er einst seinem Besitzer raubte und das selbst jetzt noch ein unheilvolles Leuchten von sich gab.
„Das Auge spricht zu jenen, welche nach Macht streben. Es frisst sich in ihre Seele und übernimmt ihren Geist, um Freiheit zu erlangen ...“
„D-Dann sollten wir Euch doch schnellstens ins Hospital bringen ...!“
Berteline war drauf und dran, loszulaufen, doch Haldrath hielt sie fest und sprach weiter.
„Solche Mühen sind vergebens ... Das Auge ist bereits mit meinem Körper verwachsen, nicht einmal meine Rüstung vermag ich mehr abzulegen. Bisher gelang es mir dank meines starken Geists, mein Herz nicht von Nidhogg kontrollieren zu lassen, doch wie es scheint, ist er darauf erpicht, sich stattdessen meines Körpers zu bedienen ... Es wird nicht mehr lange dauern, bis ich als seine Marionette ende, getrieben von nichts als dem Hass des schwarzen Drachen.“
„Grundgütige ...“
Haldrath blickte auf den vor Schock erstarrten Aureniquart und sprach ruhig und besonnen weiter.
„Deshalb bitte ich dich, alter Freund. Setze meinem Leben ein Ende, solange ich noch bei Sinnen bin ...“
„D-Das kannst du nicht ernst meinen! Du willst, dass ich dich töte!?“
Aureniquart war in einer Familie einfacher Bürger aufgewachsen, und die Manieren, welche er nach Erhalt seines Rittertitels lernte, vergaß er schon früher leicht in emotionalen Situationen. Diese Angewohnheit nach so langer Zeit wieder zu Gesicht zu bekommen, brachte unbewusst ein Lächeln auf Haldraths Lippen zum Vorschein.
„Ich bin mir der Schwere dieser Bitte bewusst, und doch muss ich sie wiederholen … Sollte ich als Marionette des Drachen enden, würde ich ihm zweifelsohne sein Auge bringen. Was das bedeuten würde ... bedarf wohl keiner Erläuterung.“
Selbst nachdem Nidhogg seiner Augen beraubt wurde, stellte seine Existenz eine ernsthafte Bedrohung für Ishgard dar. Unter dem Papst, der als Nachfolger Thordans fungierte, wurde der Orden der Tempelritter gegründet, und gemeinsam mit den Adeligen gelang es ihnen immer wieder, die Angriffe der Drachen erfolgreich zurückzuschlagen. Sollte Nidhogg jedoch eines seiner Augen und somit seine ehemalige Macht zurückerlangen, würde sich die Situation in einem Schlag zum Schlechten wenden.
„Ich verstehe dich, wirklich, aber … Du bist der Einzige, dem ich jemals meine Treue geschworen habe!“
„Erinnere dich an die Worte Nidhoggs ...
‚Die Sterblichen sind schwach und kurzlebig. Nur die Hohen Drachen, Kinder des Phantoms, sind es würdig, Wächter des Heimatsterns zu sein.‘
Als wir erfuhren, was ihn bewegt, fassten wir unseren Entschluss.“
Haldrath sprach unbeirrt weiter, ein predigender Ton in seiner Stimme.
„Um unser Reich zu beschützen, begingen wir Verrat und erschlugen einen der Hohen Drachen ... Diese Sünde wird nie vergehen und uns ewig auf dem Schlachtfeld gefangen halten. Selbst jemand wie du, der sein Schwert niederlegte und das Leben eines Schankwirts wählte, zieht eine Tochter groß, die sich in der Kunst der Lanze übt.“
Der Blick des Drachenreiters ließ von Aureniquart ab, welcher kraftlos zu Boden blickte, und fiel erneut auf das Gesicht der Tochter.
„Du sagtest, du möchtest Drachentöterin werden, nicht wahr? Da du die Stimme Nidhoggs zu hören vermagst, bist du würdig, sein Auge zu besitzen. Nutze seine Macht und beschütze Ishgard bis zum bitteren Ende.“
Berteline starrte mit aufgerissenen Augen ins Leere und murmelte geistesabwesend vor sich hin.
„Ich, eine Drachenreiterin ...?“
„Ganz recht. Solange wir die Rechtschaffenheit hochhalten, der Ishgard geweiht ist, so wird auch der Azur-Drachenreiter der Macht des Drachen nicht unterliegen. Aber auch wenn der Geist standhalten mag, der Körper wird nach und nach vergehen. Wenn du spürst, dass dein Körper entkräftet ist, wähle einen Nachfolger aus, bevor du so endest wie ich. Die Lebensspanne der Drachen ist lang, also sei darauf gefasst, dass dieser Kampf viele Generationen überdauern wird ...“
Kaum hatte er diesen Satz beendet, durchzog den Drachenreiter ein weiterer Anfall von Schmerzen.
„Tu es, Aureniquart ...! Wenn dein Treueschwur wahrlich ernst gemeint war ... dann beweise es mir jetzt ...!“
Wie sowohl Vater als auch Tochter den sich vor Schmerzen krümmenden Haldrath vor sich sahen, verstanden sie, dass ihnen keine Zeit zu zögern blieb. Mit zitternder Hand nahm Aureniquart die Lanze des Drachenreiters und presste dessen Spitze auf die Brust ihres Besitzers. Jedoch gelang es ihm nicht, die Kraft aufzubringen, den Stoß zu vollenden. Wie könnte er Haldrath umbringen, den Mann, der einem Tunichtgut wie ihm eine Chance gegeben hatte und ihm sowohl als Freund als auch als Ritter stets Halt und Führung war?
Berteline sah, wie ihr Vater haderte, und legte ebenfalls ihre Hand auf die Lanze.
„Mein Vater wird diese Sünde nicht allein begehen ...“
Sie tauschten einen letzten Blick und fassten so ihren Entschluss. Mit verzerrtem Gesicht und letzter Kraft bemühte sich Haldrath, seinen Lippen ein Lächeln zu entlocken.
„Leb wohl, alter Freund. Und habt Dank, Azur-Drachenreiterin. Möge der Krieg mit den Drachen eines Tages ein Ende finden ...“
Die Lanze, die einst unzählige Drachen erlegte, bohrte sich mit einem Stoß in das Herz ihres Besitzers und brachte den Traum zu einem abrupten Ende.
Aus dem Schlaf hochgeschreckt wischte sich Estinien den Schweiß von der Stirn und blickte auf seine Lanze, welche in der Zimmerecke an der Wand lehnte. Sie trug den gleichen Namen wie sein Erzfeind: Nidhogg.
„Du zeigst mir ja die verrücktesten Sachen ...“
Einst wurden auch sein Geist und Körper von den Augen Nidhoggs übernommen, wodurch er dem Willen des Drachen hilflos ausgesetzt war. Eines dieser Augen wurde damals Haldraths Leichnam entnommen, mit welchem es verwachsen war. Wurde dieser Traum aus den Erinnerungen seiner Vorgänger geschaffen, welche durch die Macht des Auges übermittelt wurden?
Estinien dachte etwas nach, schüttelte aber schließlich nur den Kopf. Eine Antwort auf diese Fragen konnte ihm ohnehin niemand geben. Er stand auf und öffnete das Fenster, um sich vom kühlen Nachtwind erfrischen zu lassen.
„Der Krieg ist vorbei. Es hat tausend Jahre gedauert, doch dein Wunsch ging in Erfüllung.“
Vor seinem Fenster erstrahlte die Kulisse des nächtlichen Radz-at-Han, in welcher Sterbliche und Drachen in Eintracht ihre Leben führten.