Frühjahrsechos

Im Leveilleur-Anwesen fanden Umbauten statt. Die Dame des Hauses, Ameliance Leveilleur, hatte sich freiwillig gemeldet, eine Austauschstudentin aus Thavnair bei sich aufzunehmen, und nun galt es, einen der Räume für sie herzurichten. So hatte Ameliance dabei zugesehen, wie der elegant ausgestattete Salon in ein nicht minder elegantes Schlafzimmer verwandelt worden war. Gerade schritt sie durch das neu eingerichtete Zimmer, um das Werk der letzten Stunden zu inspizieren, da fiel ihr der alte Schreibtisch ins Auge, der seit jeher zum Mobiliar gehörte. Eine Schublade hatte sich gelöst und stand einen Spalt breit offen, was ihr in dem ansonsten makellos ordentlichen Raum ein besonderer Dorn im Auge war. Doch als sie versuchte, die Schublade zu schließen, wollte es ihr nicht gelingen. Irgendetwas klemmte.

„Ah, da zeigt der Tisch wohl sein Alter ...“, murmelte sie, als sie sich das Möbelstück genauer besah. Es handelte sich um eine wahre Antiquität, angeschafft für einen jungen Louisoix, um seine ersten Lettern zu lernen. Danach hatte sein Sohn Fourchenault an ihm gesessen und schließlich auch Alphinaud. So hatten sich über diesen Tisch bereits drei Generationen an Gelehrten des Hauses Leveilleur gebeugt, und es war kaum ein Wunder, dass der Zahn der Zeit seine Spuren hinterlassen hatte.

Ameliance versuchte, die Schublade gänzlich herauszuziehen und überlegte bereits, welchen Schreiner man wohl mit der Reparatur beauftragen könnte, da entdeckte sie den Grund für den Defekt. Im hinteren Teil der Lade war ein geheimes Fach angebracht, dessen Klappe sich nun gelockert hatte und das Schließen der Schublade unmöglich machte. Natürlich hatte der schelmische Louisoix bereits damals einen Schreibtisch mit Geheimfächern haben wollen. Aber auch Ameliance selbst war dem Schalk keineswegs abgeneigt und so spähte sie hinter die Klappe. Ein kleines Notizbuch, eingeschlagen in feinem Leder, kam zum Vorschein. Von der Neugier beflügelt schlug sie die erste Seite auf und erkannte sofort die elegante Handschrift ihres Sohnes.


Der Eintrag war auf die erste Sonne im Dritten Lichtmond des Jahres 1572 datiert, das später als das letzte Jahr der sechsten Ära des Lichts in die Chroniken eingehen sollte. Der Dritte Lichtmond, die laue Zeit, in der das kalte Nordmeer endlich von der Wärme des Frühlings erfasst wurde.


Ihre Augen flogen über die Zeilen – Alphinaud war anscheinend gelangweilt gewesen. Zwar hatte er den Brief zur Aufnahme in die Magieakademie von Sharlayan erhalten, die er so unbedingt besuchen wollte, aber nun musste er auf den Beginn des Semesters warten und wusste wenig mit sich anzufangen. Jener Tag schien besonders fad, denn zu allem Überfluss war sein Großvater außer Haus, um gemeinsam mit Alisaie Einkäufe zu verrichten. Nachdem Alphinaud erfahren hatte, dass Louisoix schon bald nach Eorzea aufbrechen würde, wollte er so viel Zeit mit seinem Großvater verbringen wie nur irgend möglich. Nur kam ihm Alisaie in dieser Hinsicht grundsätzlich zuvor ...


In seiner Unrast beschloss er wohl, sich mit einem Buch in den Garten zurückzuziehen. Doch auf dem Weg dorthin stieß er im Foyer auf seinen Vater.

„Vater! Gehst du aus?“

„Ja. Eine Inspektion.“

„Selbst am Wochenende musst du deinen Pflichten nachgehen?“

Nicht zum ersten Mal schmunzelte Ameliance über ihren Sohn, der mit seinen zarten elf Jahren bereits zu sprechen wusste wie ein gestandenes Ratsmitglied.

„Nein, nein. Heute ist es lediglich eine Privatangelegenheit und keine Sache des Rates.“

Alphinaud mochte damals schon geklungen haben wie ein weiser Mann, doch in ihm schlug nun einmal das Herz eines Knaben. So mussten seine Augen wohl aufgeleuchtet haben, als er seinen Vater bat, ob er nicht bitte mitkommen dürfte. Fourchenault zögerte nur kurz, ehe er seinen Sohn mit sich aus dem Haus nahm.


Es folgte eine kurze Beschreibung seiner Eindrücke unterwegs – eine junge Alisaie, die am Rande der Agora kniete und ihrem Hund Angel durch das Fell wuschelte; Louisoix, der nicht weit davon von einer Traube Leute umringt war, in der er Rektor Montichaigne sowie Professorin Rurusha vom Institut für Archäologie und Professor Nenelymo Totolymo vom Ätherologischen Institut ausmachen konnte – allesamt kluge Köpfe der Akademie. Zweifelsohne würde das Gespräch, in das sie seinen Großvater verwickelt hatten, ein langatmiges werden. „Die arme Alisaie“, bemitleidete er seine Schwester aufrichtig, während er seinem Vater folgend die Szene hinter sich ließ.

Wenige Minuten später fanden sie sich vor dem Gebäude auf dem höchsten Hügel der Stadt des Wissens wieder: dem Forum. Der junge Alphinaud hatte es sich nicht nehmen lassen, sein Wissen über diesen Ort auf Papier zu bringen. Früher war das Forum ein runder, offener Platz, auf dem sich ein jeder Bürger treffen konnte, um die Geschicke der Stadt zu diskutieren und sich über Politik auszutauschen. Nun hatte sich jener Platz in ein imposantes Parlamentsgebäude verwandelt, in dem neunundneunzig Ratsmitglieder als Vertreter der Stadt Plenum hielten. Dem jungen Elezen kamen Zweifel, ob sein Vater wirklich aus privaten Gründen hier war, wo das Forum doch praktisch sein Arbeitsplatz war. Weshalb sollte man an einem freien Tag zur Arbeit gehen?

„Wir sind da. Bleib dicht bei mir.“

Mehr musste Fourchenault nicht sagen, um sich des artigen Betragens seines Sohnes sicher zu sein. Sie betraten das Gebäude linkerhand, stiegen die breite Treppe hinab und standen schließlich vor einer schwer bewachten Pforte im Keller des Gebäudes. Da in Sharlayan ein jeder wusste, wer Fourchenault Leveilleur war, ließ man sie passieren – nach einer ganzen Reihe Standardprozeduren für Besucher, selbstverständlich.


Kaum war Alphinaud durch die Türe getreten, schloss sie sich auch schon hinter ihm und der kleine Raum wurde von einem Beben erfüllt. Erst da ging ihm auf, dass sie eine Art Aufzug betreten hatten.

„Vater, fahren wir ins ...“

„Ganz recht. Das Labyrinthos, der unterirdische Komplex unter unserer Stadt. Natürlich hast du auch schon davon gehört?“

Das hatte Alphinaud. Sharlayan war eine Vulkaninsel, und direkt unter der Stadt befand sich ein massiver Hohlraum, der einstmals ein Lavasee gewesen sein soll. Auch wusste er, dass dort verschiedene Materialien und biologische Proben aus der ganzen Welt zusammengetragen wurden. Sein Herz fing an, schneller zu schlagen.


Doch nichts, was er vorher über das Labyrinthos aufgeschnappt hatte, bereitete ihn auf das vor, was ihn erwarten sollte. Seine Augen wurden groß vor Staunen, als er aus dem Aufzug trat. Über ihm erstreckte sich ein zweiter Himmel, von dem ihm eine künstliche Sonne wärmend ins Gesicht schien. Beim Anblick seines Sohnes, der so strahlte wie die Sonne selbst, legte sich ein Lächeln auf Fourchenaults Lippen.

„Es ist atemberaubend, nicht wahr? Es hat lange gedauert, doch vor wenigen Tagen erst wurde nun endlich der letzte Ventilationsturm fertiggestellt. Die erste Inbetriebnahme der Türme wollte ich mir natürlich selbst ansehen.“

Sogleich spürte er die zarte Brise umso deutlicher, die ihm durch das Haar strich, und er machte sich daran, seinen Vater einzuholen. Er lehnte sich über die Brüstung und blickte auf das satte Grün hinab, das sich dort erstreckte. Waren sie wirklich noch unter der Erde?

„Fantastisch! Es sieht gar nicht mehr aus, als wären wir im kalten Norden!“

Fourchenault gesellte sich zu seinem Sohn, der mit leuchtenden Augen über das Labyrinthos blickte.

„Das stimmt. Stattdessen haben wir das warme Klima von Corvos nachgebildet, im Süden Ilsabards. Die Garlear gehen sogar so weit, es ein Paradies zu nennen ... und es fällt mir schwer, ihnen zu widersprechen. So unangenehm es mir auch ist, mit diesen Kriegstreibern ausnahmsweise einer Meinung zu sein.“

Fourchenault war selten derart gesprächig. Dieses unterirdische Reich zu schaffen, muss von so vielen Rückschlägen gepflastert gewesen sein, dass er nun voller Stolz darüber erzählen wollte.


Als Nächstes nahm er seinen Sohn mit ins Logistikon Alpha, die Einrichtung, die das Wetter im Labyrinthos regelte. Für den Jungen, dessen Herz so sehr von Neugier und Wissensdurst erfüllt war, gab es kaum etwas Aufregenderes als diese hochmodernen Apparaturen. Die Erfahrung beflügelte ihn regelrecht – er wollte mehr wissen, mehr kennenlernen, mehr sehen.

„Und was ist dort hinten? Lass uns bitte hingehen!“

Nachdem Fourchenault seine Inspektion abgeschlossen hatte, zeigte Alphinaud aufgeregt auf eine bewaldete Straße, die gen Norden führte.

„Für heute ist es genug. Gehen wir nach Hause.“

Für einen Augenblick lang fühlte sich Alphinaud ganz wie ein kleiner Junge, dem sein liebstes Spielzeug weggenommen worden war. Aber diese Kindlichkeit würde er nicht zeigen, nicht an diesem Ort voller erwachsener Wunder, und erst recht nicht vor seinem klugen Vater. So riss er sich zusammen, ehe seine Miene ihn verraten konnte. Doch seine Rettung war schon auf dem Weg:

„Unsinn. Heute ist der perfekte Tag für ein Picknick.“

Der Einspruch kam von Ameliance, die zwei ausladende Körbe in ihren Händen hielt.

„Obwohl heute jeder freihaben sollte, fliegen alle aus und lassen mich allein im Haus zurück. Das habt ihr euch wohl so gedacht, wie? Aber nicht mit mir.“

Ihre Worte klangen scherzhaft und sie sprach sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Die sanfte Schärfe ihres Tons machte allerdings unmissverständlich klar, dass jeglicher Widerspruch zwecklos war. Vor dieser Autorität musste sich auch ein hohes Ratsmitglied beugen. Zumal es nicht lange dauerte, bis Louisoix mit Alisaie und Angel zu ihnen stießen, die wohl in ähnlicher Weise von der Herrin des Hauses gerügt worden waren. So ließ sich die gesamte Familie Leveilleur zu einem entspannten Picknick im Medialzirkel nieder.


In der sanften Brise der neu errichteten Ventilationstürme breitete man Decken aus und tischte eine Vielzahl kleiner Speisen auf, die von der Letzten Bastion in den Körben sicher hergebracht worden waren. Der letzte Schliff des perfekten Picknicks war das würzige Aroma frisch gebrühten Schwarztees, das nunmehr die Luft erfüllte.


Natürlich blieb es nicht unbemerkt, dass eine der angesehensten Familien Sharlayans in derart idyllischer Art und Weise zusammenkommen sollte, und so ging niemand an den Leveilleurs vorbei, ohne Grüße und einige nette Worte gewechselt zu haben.


Einige Leute gesellten sich gar dazu, Galuf Baldesion allen voran. Er hatte eine junge Lalafell bei sich, die er als seine Ziehtochter vorstellte. Ameliance wusste, dass sie an der Magieakademie studierte, und nutzte sogleich die Gelegenheit, ihre eigenen Kinder bei einer gemeinsamen Tasse Tee vorzustellen – denn bald schon würden sie selbst ihre Studien an der Akademie beginnen. Die junge Krile Baldesion lächelte warm, als sie die Tasse hob und versprach, die Zwillinge aus Leibeskräften zu unterstützen.


Später kamen auch zwei von Louisoix‘ Schülern hinzu – die sonnige Moenbryda Wilfsunnwyn und der weitaus wortkargere Urianger Augurelt. Während sich der Elezen geziert hatte, ein solch intimes Familientreffen zu stören, wurde er von dem unschlagbaren Argument Moenbrydas überstimmt, dass eine Teegesellschaft doch nur besser werde, je mehr Leute sich an ihr beteiligten. Spätestens, als Louisoix das Thema der prophetischen Poesie anriss, war jegliches Eis gebrochen und eine angeregte Diskussion vom Zaun gebrochen, die Uriangers Augen zum Leuchten brachten wie die des jungen Alphinaud.


Und sie blieben nicht die einzigen. Ehe man sich versah, gesellten sich hohe Mitglieder des Rates der Philosophen dazu, um ein Schwätzchen mit ihrem Kollegen Fourchenault zu halten. Rammbroes, selbst ein Exeget, vertiefte Louisoix und Urianger in ein Gespräch um seine Theorien zum allagischen Reich. Zu guter Letzt stieß gar Dickon zu ihnen, auf besondere Anordnung von Ameliance – schließlich hatte er ihr dabei geholfen, all das Essen ins Labyrinthos zu schaffen. Seine Weisheiten über goldgelbes Gebäck, die hitzig diskutiert wurden, waren die Krönung der kleinen Versammlung.

So saßen sie beieinander, bis die künstliche Sonne langsam erlosch, um den Einbruch der Nacht zu emulieren. Lediglich das schwache Licht der Kristallmasse schien auf sie hinab, was an das sanfte Glimmen einer Neumondnacht erinnerte.


Mit dieser Erinnerung vor Augen klappte Ameliance den ledernen Deckel des Büchleins behutsam zu und schloss die Augen. In ihren Gedanken kreisten jene Worte, die Louisoix zu Fourchenault und Alphinaud auf dem Weg nach Hause gesprochen hatte.

„Dieser Tag hat mich in meinem Weg bestätigt. Ich kann nun unbesorgt Sharlayan den Rücken kehren und mich unserem Gestirn widmen.“

Die Gewichtigkeit seiner Reise nach Eorzea, wo er der Siebten Katastrophe entgegentreten würde, schwang schon damals in ihnen mit. Wie glücklich musste er damals wohl gewesen sein, noch einen solch wunderbaren Tag mit seiner Familie verbracht haben zu dürfen, ehe er zu seiner tödlichen Reise aufgebrochen war?

„Und auch ich gehe den meinen. Um unseren Kindern einen Pfad gen Zukunft zu schlagen.“

Fourchenaults Antwort verriet seine Überzeugung, dass der Große Exodus der einzige Weg sei, seine Kinder zu schützen. Und damit der Grund, weshalb er nun gerade nicht in die Fußstapfen des eigenen Vaters treten würde. Louisoix hatte geschwiegen und lediglich genickt – ganz so, als wüsste er das alles bereits.

„Ein Schritt nach dem anderen, immer weiter voran. Damit ich euch beiden eines Tages auch helfen kann!“

Ameliance erinnerte sich gut an die enthusiastischen Worte ihres Jungen, in denen die Aufregung vor der Magieakademie mitschwang. Aber das war nicht alles, was in ihnen gelegen hatte. Alphinaud und Alisaie waren in die Fußstapfen ihres Großvaters getreten und waren dem Pfad gefolgt, den Fourchenault ihnen bereitet hatte – und am Ende retteten sie das ganze Gestirn. Ja, sie hatten wahrlich all ihre Versprechen gehalten.