Lahabrea blickte aus einem Winkel des Dimensionsspaltes in die Ursprungswelt und bemühte sich, ein Lächeln zu verkneifen.
Ala Mhigo, Provinz des Garleischen Kaiserreiches. In Castrum Oriens, einem an der Grenze zum benachbarten Gridania errichteten Verteidigungsstützpunkt, stand ein Mann in tiefschwarzer Magitek-Rüstung. Es war Gaius van Baelsar, Generalkonsul der Provinz Ala Mhigo und Legatus der elitären XIV. Legion. Aber er befand sich nicht in der Wärme seines Kommandostandes. Es war eine mondlose Nacht, und der Krieger stand in einer Ecke eines windgepeitschten Materiallagers, allein, ohne Eskorte.
„Was für ein drolliges, für einen Kommandanten gänzlich unpassendes Verhalten - und das nur, um ein Gespräch mit mir zu führen ...“ Amüsiert von dem Gedanken bahnte sich das Lächeln doch noch einen Weg in Lahabreas Mundwinkel.
Gaius brach das Schweigen der Nacht und sprach in die Einsamkeit der Dunkelheit hinein.
„Hier ist es gut. Jetzt zeig dich.“
Der Ruf des Mannes, den Lahabrea zu seinem Verbündeten erkoren hatte, sollte erhört werden. Mit einem flüchtigen Gedanken wirkte der Ascian seinen Teleportationszauber und erschien einen Schritt hinter Gaius, wie es seine Angewohnheit war.
„In der Tat, ein geeigneter Ort für unser Wiedersehen. Gehe ich recht in der Annahme, dass dir mein Geschenk gefällt?“
Ihr letztes Treffen, ebenfalls in Castrum Oriens, lag ein paar Tage zurück. Gaius war nach der Schlacht auf der Carteneauer Heide nach Gyr Abania zurückgekehrt und hatte darüber nachgedacht , wie sich die Dinge nun entwickeln würden.
Selbst in der Sicherheit seines Lagers war der Legatus stets auf der Hut, und so kam es an jenem Tag , dass er im gleichen Moment, da er eine Präsenz hinter sich spürte, behände seine Revolverklinge zog. Hätte ein gewöhnlicher Meuchelmörder hinter ihm gestanden, wäre dieser eine Schwung sein Ende gewesen. Doch der schwarz gekleidete Besucher wich der Klinge wie ein Schatten aus. Er sprach leise, ohne auch nur einen Hauch von Aufregung.
„Ich bin der Ascian Lahabrea und ich bin hier, um dem, den man den garleischen Wolf nennt, eine Trumpfkarte im Kampf gegen die Primae anzubieten.“
Gaius gab zwar nicht vor, den Worten des mysteriösen Mannes in Schwarz Glauben zu schenken, doch er hörte ihm genau zu. Die Spione des Frumentariums hatten ihm bereits von der Existenz einer in den Schatten agierenden Gruppe berichtet, die als „Himmelsboten“ bekannt war, und sein Interesse war geweckt. Dies war auch der Grund, warum er seinen Tribunus nach der Unterhaltung anwies, eine archäologische Exkursion auf die Beine zu stellen und in der ihm genannten Bergregion Ausgrabungen durchzuführen. Nachdem sich wenige Tage später Lahabreas Anweisungen als richtig erwiesen hatten, suchte Gaius wieder zu ihm Kontakt.
„Ultima, die Anti-Primae-Waffe. Für euch, die ihr bald wieder in Eorzea einfallen werdet, kann es doch kein besseres Geschenk geben.“
Gaius runzelte unter seinem Helm die Stirn. In seiner gedämpften Stimme lag ein Hauch von Irritation.
„Du scheinst viel über die inneren Abläufe des Kaiserreiches zu wissen, Ascian Lahabrea. Aber dass deine Reliquie nutzlos ist, das weißt du nicht?“
„... Hmh.“
„Ja, wir fanden eine gewaltige Waffe in den Ruinen, wie du es sagtest. Doch sie ist tot. Nichts mehr als ein versteinertes Fossil.“
Obwohl er bereits über alles Bescheid wusste, weil er einem untergebenen Ascian befohlen hatte, die Ausgrabung zu überwachen, erwähnte Lahabrea es nicht und wartete darauf, dass sein Gegenüber weitersprach.
Selbst für ihn, der Äonen durchlebt hatte, war Gaius van Baelsar ein bemerkenswerter Mann. Seine Bilanz suchte in der mächtigen garleischen Armee seinesgleichen. Fünf Stadtstaaten hatte er erobert und in Provinzen des Kaiserreichs verwandelt. Er war kompromisslos bei der Erfüllung seiner militärischen Aufgaben und zögerte nicht, seine Truppen in Bewegung zu versetzen, sobald er eine Gelegenheit erblickte. Ein Mann, der so schnell entschied und handelte, würde kein einsames Stelldichein in der Dunkelheit der Nacht suchen, nur um sich zu beschweren. Die Sterblichen handeln, weil sie etwas haben wollen.
„Aber nach fünftausend Jahren unter der Erde ist natürlich nichts anderes zu erwarten.“
Gaius wählte seine Worte mit Bedacht, um seine Irritation zu verbergen.
„Wir haben Erfahrung im Umgang mit allagischen Artefakten. Sobald wir die vorhandenen Teile analysiert haben, sind wir stets in der Lage, Waffen wiederherzustellen, wenn nicht gar vollständig zu reproduzieren. Anders sieht es jedoch aus, wenn der wichtigste Teil des Artefakts fehlt: sein Kern.“
Auf diese Worte hatte Lahabrea gewartet.
„So viel hast du also schon verstanden. Gut, dann kann ich mir lange Ausführungen sparen.“
Das war der Grund, warum er sich die Mühe gemacht hatte, selbst zu erscheinen, anstatt seine Handlanger zu schicken. Lahabrea streckte seine Arme auf theatralische Weise aus und fuhr fort.
„Eine Waffe, welche die Götter der Wilden zu vernichten mag, benötigt eine gewisse Menge an Energie. Deshalb verwendeten die Wissenschaftler der Allager eine Substanz als Kern, die sie gerade erst begonnen hatten zu verstehen.“
„Sag schon. Du weißt, was diese Substanz ist und wo sie zu finden ist. Sonst wärst du nicht hier.“
„Natürlich. Das Material, das als Kern dient, ist der Auracit Sabik. Selbst die alten Allager vermochten es nicht, mehr als seine Oberfläche mit ihren Analysen zu durchdringen!“
Mit einer Bewegung einer seiner ausgestreckten Arme ließ Lahabrea einen schwarzen Kristall in seiner Hand erscheinen. Die Macht, nach der sein Gegenüber verlangte, war zum Greifen nahe. Dies war der Zugang, den Lahabrea wollte.
„Dir werde ich diese Macht anvertrauen. Du sollst dem Gestirn die Harmonie, seine wahre Gestalt zurückbringen.“
„Ich bin nicht an deinen Idealen interessiert. Weil machtlose Herrscher die Völker führen, werden falsche Götter angerufen, verdorrt die Erde und verblasst das Leben. Ich gebe dir diese Macht, damit du diesen Zustand beendest.“
„Ich verstehe dich. Folge deinen Idealen. Um derer willen, die du beschützen musst.“
Doch Gaius bewegte sich nicht. Wahrscheinlich war er immer noch unsicher, ob er den Vorschlag des Unbekannten annehmen sollte. Aber die Waage konnte nur in eine Richtung ausschlagen. Ein Mann, der sich anschickte, die Welt unter dem Banner seines Kaisers zu befrieden, konnte eine Macht dieser Art nicht ignorieren.
„Sagte dein Kaiser nicht: ‚Alles Land, das sich vor unseren Augen erstreckt, muss sich unserer Herrschaft beugen. Geht fort. Erobert. Herrscht.‘? So lauteten doch seine Worte.“
Lahabrea genoss das Schweigen des Mannes, der fast in Zweifeln ertrank, und sprach weiter.
„Aber du, du siehst darüber hinaus. Du weißt, wie viele Leben es gibt, die unter der Führung der Mächtigen gerettet werden können.“
Lahabrea hatte seine Untergebenen mit dem Auftrag ausgesandt, jemanden zu finden, der es wert war, mit seinem allagischen Geschenk betraut zu werden. So stieß er auf Gaius, und augenblicklich verstand er dessen Charakter. Er war nicht nur ein ausgezeichneter Soldat, sondern hatte sich in den von ihm regierten Provinzen sowohl als strenger Herrscher als auch gerechter Mann erwiesen. Er fand talentierte Leute und förderte sie ungeachtet ihrer Herkunft, und er rettete Waisenkinder vor der eisigen Kälte. Gerade weil Gaius ein fairer und gütiger Mann war, suchte er die Macht, um seine Ideale zu verwirklichen. Dafür war er bereit, abgründigen Versuchungen zu erliegen. Und das Chaos zu entfesseln, das der Ascian sich wünschte.
„Es gefällt mir nicht. Wie lange beobachtest du mich eigentlich schon?“
Aber in diesen Worten schwang bereits seine Resignation mit. Gaius van Baelsar trat vor und streckte seine Hand aus. Gerade als Lahabrea ihm den Auraciten Sabik überreichen wollte, sagte Gaius:
„Aber lass mich dir noch eine Frage stellen.“
Lahabrea hielt in der Bewegung inne.
„Warum hast du den Auraciten geborgen, nachdem die Allager die Ultima-Waffe aufgaben? Wenn sie dazu bestimmt war, in Vergessenheit zu geraten, hättest du ihn in den Ruinen zurücklassen können.“
Als er darüber nachdachte, wie er reagieren sollte, tauchten zwei Gesichter vor Lahabreas geistigem Auge auf. Er wusste weder, warum sie erschienen noch wem sie gehörten. Der Ascian überlegte sich eine Antwort und unterdrückte das Gefühl des Unbehagens, das sich in seinem Geist ausbreitete.
„Es lag an mir, jeden Missbrauch zu verhindern, bis jemand erschien, der würdig genug war. Niemand kennt das volle Ausmaß von Sabiks Macht. Ja, seit langer Zeit hat niemand ...“
Die letzten Worte gingen fast unter, als er noch größeres Unbehagen verspürte. Wann hatte er zum ersten Mal von der Existenz des Auraciten Sabik erfahren? Und wer war zu dieser Zeit bei ihm gewesen?
Um dem Gestirn seine ursprüngliche Gestalt zurückzugeben, war es notwendig, die Grenzen zwischen den Dimensionen niederzureißen und die Splitterwelten zu vereinen. Für diesen lang gehegten Traum, an dem er seit zwölftausend Jahren festhielt, hatte Lahabrea mehr getan als jeder andere. Immer wieder hatte er seinen sterbenden Körper gewechselt, nicht einmal im Schlaf Trost gesucht und unermüdlich die Saat des Chaos gesät, die zum Kollaps der Welten führen sollte. Aber die Zeit zermürbte das Herz. Egal, wie sehr man sich etwas wünschte, egal, wie sehr man dafür brannte. Nach hundert Jahren trug es Risse, nach tausend fiel es zusammen, nach zehntausend war es nur noch ein Schatten. Jetzt hatte Lahabrea sogar sein eigenes, ursprüngliches Ich vergessen. Er hatte seine Familie vergessen, die ihm eigentlich alles bedeuten sollte. Was ihm blieb, waren seine zwölf Leidensgenossen, die das gleiche Ziel hatten, sowie die Existenz Zodiarks. Wenn man sich nur daran erinnerte, daran glaubte, war alles andere überflüssig. Doch was war dann dieses unbeschreibliche Gefühl des Unbehagens?
„...?“
Gaius' Blick durchbohrte den schweigenden Lahabrea. Der Ascian hatte gesagt, was er zu sagen hatte. Jetzt musste er seinem Gegenüber nur noch den Auraciten überreichen ... Aber die zwei Gesichter in seinem Kopf wollten einfach nicht verschwinden.
Jetzt sah er sie deutlicher. Das eine gehörte einer Frau, mit einem Lächeln auf den Lippen und funkelnder Neugierde in den Augen. Das andere einem Mann mit feuerrotem Haar und zielstrebigem Blick.
Aber wer sie waren und was sie bedeuteten, fiel ihm nicht ein.
Er gab Gaius die Ultima-Waffe, damit er mit ihrer Macht Chaos über Eorzea brächte. Und wenn der Diener des Lichts auftauchen und den Garlear zum Kampf herausfordern sollte, um die Vereinigung der Welten zu verhindern, würde dieser die in dem Auraciten versiegelte Kraft nutzen können, um ihm die Stirn zu bieten. Zu diesem Zweck war es notwendig, hier und jetzt den Auraciten Sabik, den heiligen schwarzen Stein, herzugeben. Obwohl es Lahabrea so klar war, was getan werden musste, um seinen Auftrag zu erfüllen, klagten die Gesichter etwas ihm Unbegreifliches an.
Es musste eine Erinnerung sein, die irgendwo verloren gegangen war. Eine Erinnerung, die er für sein Bestreben überflüssig gehalten und aufgegeben hatte.
Lahabrea - der, der alles hinter sich gelassen hatte - war in seiner Vergangenheit gefangen.
Er verdammte sich selbst für seine Verwirrung und legte den Auraciten in Gaius' Hand. In den wenigen Augenblicken, die er dazu brauchte, waren die beiden Gesichter verschwunden. Ohne den Blick des Mannes zu erwidern, der nach dem Grund für sein Schweigen fragte, drehte sich der Ascian um. Als wollte er sich einem neuen Pfad zuwenden.
Einem Pfad, der ihn weit weg von den Stimmen führen würde, die ihm aus den Tiefen seines Herzens entgegenhallten.