Der Gesang, welcher das Ende allen Seins vom Rand des Universums aus verkündet hatte, war verstummt.
Infolge dieser sowohl frohen als auch überraschenden Kunde versammelten sich die zwölf Götter Eorzeas im Omphalos. Nach unzähligen Jahrtausenden, die sie über das Gestirn gewacht hatten, waren es diese Worte, gerichtet an Oschon den Wanderer, die ihren wohl letzten Kongress beschließen sollten.
„Deine letzte Reise wartet auf dich. Möge sie von einem wundervollen Schicksal gesegnet sein.“
Während sie sprach, zierte Nymeias Lippen ein sanftes Lächeln, das hell wie ein Stern funkelte.
Mit bewegter Stimme vollendete Althyk den Satz seiner Schwester.
„Weise ihm den Weg zum Omphalos, auf dass er sich unseres Wunsches annehmen wird.“
Oschon antwortete mit einem wortlosen, doch entschlossenen Nicken. Er war nicht der Einzige, für den dieser Moment starke Gefühle hervorrief.
Thaliak war erfüllt von Erleichterung, dass die lange Geschichte des Gestirns und seiner Bewohner nicht verloren gegangen war. Hierzu gesellte sich auch Stolz auf jene, die mit all ihrer Kraft und Intelligenz für das Weiterbestehen ihrer Heimat gekämpft hatten. Azeyma wiederum spürte unbeschreibliche Freude in sich, dass Venats Wunsch in Erfüllung gegangen war. Die Gedanken von Halone und Menphina schließlich waren erfüllt von Bildern jenes Tages, als sie von ganzem Herzen für die sichere Reise der Ragnarök beteten.
Die Götter kamen nicht umhin, ihre Gedanken schweifen zu lassen, was nach ihrer Zeit mit dem Gestirn geschehen würde. Es war ihr Wunsch, all die Macht, die sich über unzählige Äonen durch Gebete und Gedanken in ihnen angesammelt hatte, als „Segen“ an das Gestirn zurückzugeben - um das Leben all jener, die jetzt und in Zukunft diesen Ort ihre Heimat nennen, auch nur einen Hauch schöner zu gestalten. Die Kerne ihrer Existenz - Seelenfragmente, welche ihnen von ihrer Schöpferin Venat verliehen worden waren - wollten sie dem Sternengrund zurückgeben, um eines Tages als Sterbliche neu geboren und fortan gemeinsam mit ihren ehemaligen Schützlingen leben zu können.
Dieser Wunsch konnte jedoch nur erfüllt werden, indem sie in einem erbitterten Kampf gegen ihre geliebten Kinder eine Niederlage erlitten. Mit der Bedrohung der Letzten Tage nun gebannt, waren sich die Götter einig, dass die Zeit reif war.
Byregot und Rhalgr machten sich sofort an die Arbeit, einen passenden Schauplatz für ihr letztes Gefecht zu entwerfen. Llymlaen wiederrum nahm die Form eines Seevogels an und flog nach Limsa Lominsa, um noch einmal dem regen Treiben in dieser Stadt, gefüllt mit den treuesten ihrer Anhänger, hautnah beiwohnen zu können. Oschon verließ den Omphalos als Letzter, nun in Gestalt eines Sterblichen namens Deryk, um als Schlüsselfigur ihres Plans seine Pflicht zu erfüllen - den Helden des Gestirns in ihr Reich zu leiten.
Herrschte er auch eigentlich über die Berge und Täler, so war er doch in erster Linie als der Wanderer bekannt - es war seine Pflicht, zu Fuß die Welt der Sterblichen zu durchqueren und ihnen in Momenten der Einsamkeit beizustehen.
Für ihn, der sich eher selten in der Welt der Götter aufhielt, gab es hierbei eine selbst auferlegte, heilige Vorschrift: Bei jedem Besuch der Welt der Sterblichen achtete er darauf, sie an demselben Ort zu betreten, an welchem er sie zuletzt verlassen hatte. Andernfalls würden sicherlich ungewollte Gerüchte über einen mysteriösen Reisenden zu keimen beginnen, der es ohne Ätheryt vermochte, nach Belieben zu verschwinden und plötzlich an einem anderen Ort zu erscheinen. In diesem Fall war es der Finsterwald, genauer gesagt der Flüsterhain, wo Deryk seine Füße sanft auf den weichen Erdboden setzte. Außer einer kleinen Gruppe wilder Bestien, die durch sein plötzliches Erscheinen aufgeschreckt wurde, blieb seine Ankunft gänzlich unbemerkt. Er nahm einen letzten, tiefen Atemzug ... und machte sich dann auf den Weg, gleich einem Reisenden, der soeben eine kurze Rast beendet hatte.
Begleitet von einer leichten Brise und dem Rascheln der Blätter unter seinen Füßen, kam schnell der Murmellauf in Sicht, welcher den Flüsterhain vom Erlenbrunnen trennte. Vor dem Kongress im Omphalos hatte Deryk als einfacher Reisender etwas Zeit in Mühlenhain verbracht.
Handelte es sich hierbei zwar um eine kleinere Grenzsiedlung, wurde sie doch oft genug von Abenteurern besucht, sodass sein unerwartetes Auftauchen für keinerlei Misstrauen gesorgt hatte und er einige ruhige Tage dort verweilen konnte. So war er auch den stationierten Wachen des Klageregiments bereits vertraut, weshalb er von einem Soldaten bei einer kurzen Begegnung auf einer Brücke lediglich mit einem Lächeln gegrüßt wurde und seinen Weg ungehindert fortführen konnte.
Das Licht der tiefstehenden Sonne fiel durch die Blätter in Deryks Augen, während er weiter den schmalen Waldpfad entlangschritt und gedanklich die Route seiner bevorstehenden Reise plante. Der direkteste Weg wäre es wohl, den Finsterwald nördlich zu verlassen und hiernach Mor Dhona von Coerthas aus anzusteuern. Danach müsste er lediglich einen Forscher der Sankt Coinach-Stiftung finden, die dort ihr Lager aufgeschlagen hatte, und diesem erzählen, er habe einen Eingang in das sagenumwobene Schemenreich gefunden.
„... Diese Reise wird wohl kürzer werden, als ich befürchtet hatte.“
Diese melancholischen Worte machten Deryk bewusst, was er sich wohl schon die ganze Zeit gewünscht hatte - dass diese Reise nie enden würde.
Würde ein unbekannter Reisender wie Deryk den für aufgelöst erklärten Bund der Morgenröte direkt um Unterstützung bitten, geschweige denn den Helden des Gestirns, so würde dies sicherlich Misstrauen erwecken. Auch wenn ihm bewusst war, dass ein weit gereister Abenteurer wie er im Laufe ihrer Zusammenarbeit früher oder später seine Identität herausfinden würde ... so wollte er das zumindest bei ihrem ersten Treffen vermeiden.
Aufgrund der engen Beziehungen des Bunds zu Baldesions Gelehrten kamen Thaliak und Nald'thal letztendlich zu dem Schluss, dass ein Gesuch um Unterstützung an eine sharlayanische Forschungseinrichtung die natürlichste Herangehensweise sei. Somit wurde Mor Dhona zu Deryks Ziel erklärt, doch diesem fiel es nun schwer, seinen Wunsch zu unterdrücken, dass ein weiter entfernt gelegener Ort gewählt worden wäre.
Der Pfad, auf dem er sich momentan befand, war nur einer der unzähligen, die durch das Kommen und Gehen aller möglichen Leute ausgestampft und gefestigt wurden - genau, wie sich auch die Geschichte der Sterblichen über Jahrtausende angehäuft und aufgebaut hatte. Teilte er als einer der Zwölf zwar ebenfalls den Wunsch, in den Ätherstrom zurückzukehren und eines Tages als neues Leben Teil dieser Geschichte zu werden ... so spürte er doch das leise Verlangen in sich, als Deryk seine Reise nur noch ein bisschen länger fortführen und dem Treiben der Sterblichen beiwohnen zu können.
Mit diesen Gedanken im Kopf kam Deryk schließlich am Herbstkürbis-See an. Hier hatte man direkt über dem Gewässer gesiedelt, um nicht unnötig Bäume für Bauflächen fällen zu müssen. Darüber hinaus ist die Siedlung für ihre erstklassige Herberge berühmt, und ihre Einwohner sind Besuchern gegenüber äußerst aufgeschlossen. Aus diesen Gründen bildet der Herbstkürbis-See den perfekten Zwischenstopp für alle jene Reisende und Händler, die auf dem Weg nach Coerthas neue Kraft sammeln wollen - eine Tatsache, die durch das bunte Treiben von Abenteurern jedes Schlags nur bestätigt wurde. Bei dem Anblick dieses sowohl friedlichen als auch lebhaften Tummelns erschien wie von selbst ein Lächeln auf Deryks Lippen. Mit Achtsamkeit, die anderen Anwesenden nicht zu behindern, lief er am Ätheryten vorbei, wo er sich für eine kleine Rast auf einer Bank niederließ. Just in diesem Moment drang eine männliche Stimme an sein Ohr.
„He, hast du etwa vor, so spät noch weiterzureisen? Es wird schon bald dunkel, da ist es draußen ziemlich gefährlich. Ich an deiner Stelle würde mir im Schwimmenden Korken ein Zimmer nehmen.“
Allem Anschein nach handelte es sich bei diesem Mann um einen Einheimischen, und seine Aussage kam nicht von ungefähr, wie Deryk nach einem kurzen Blick um sich zugeben musste. Die Straßenlaternen leuchteten bereits sanft, während sich der Schleier der Nacht langsam über den Wald zu senken begann. Deryk sah zu dem Mann hinüber und bedankte sich für seinen Rat.
„Ah ... Ich danke für deine Sorge. Jedoch ist bei meiner Reise Eile geboten, weshalb ich heute noch so weit wie möglich voranschreiten und dann im Freien übernachten werde.“
Trotz seiner persönlichen Wünsche sah es Deryk als seine Pflicht an, so schnell wie möglich mit dem Helden von Eorzea in Kontakt zu treten. Darüber hinaus konnte er es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, einen Platz in der Herberge einzunehmen, den ein anderer Reisender dringender benötigen könnte als er. Immerhin war es für die Zwölf selbstverständlich, stets die Nöte ihrer Schützlinge vor ihre eigenen zu stellen.
Der Blick des besorgten Mannes wanderte zu Deryks Füßen, und sein Gesichtsausdruck schien anzudeuten, dass ihm noch weitere Worte auf der Seele brannten. Bevor er diese jedoch aussprechen konnte, bedankte sich Deryk erneut und machte sich auf den Weg.
Kaum hatte er den Herbstkürbis-See hinter sich gelassen, so änderte sich die Umgebung ebenso schnell wie drastisch. Wo bisher kräftige Stämme und dichte Baumkronen die Landschaft prägten, erstreckten sich nun lediglich gewaltige Wurzeln und verbrannte Erde, die durch den Fall des Mondes Dalamud während der Siebten Katastrophe aufgerissen worden war.
Um dennoch die Sicherheit von Reisenden bestmöglich gewährleisten zu können, wurde der Weg sowohl instand gehalten als auch mit Wachposten versehen. Dazu wagten sich manche sogar bis in die aufgespaltene Erde selbst, in der Hoffnung, mit den dort auffindbaren Mineralien an Reichtum zu gelangen. Nichts zeugte wohl besser von der Widerstands- und Anpassungsfähigkeit, mit denen die Sterblichen dieses Gestirns gesegnet waren.
Gerade, als Deryk beschlossen hatte, seinen Schritt zu verschnellern, um noch vor Einbruch der Dunkelheit Coerthas erreichen zu können, hielt ihn eine Stimme zurück.
„Deryk. Bevor du den Finsterwald verlässt, gibt es etwas, das du wissen solltest.“
Überrascht drehte er sich um, und sah sich dem Phantom einer wandelnden Pflanze gegenüber - mit anderen Worten, einer verwandelten Form von Nophica, in welcher diese unentdeckt die Welt der Sterblichen betreten konnte. Sie schwebte leicht über dem Waldboden und strich ihm mit ihren fingerähnlichen Ranken geschickt über sein Kinn.
„Wie unüblich von dir, mich extra aufzusuchen ... Ist etwas vorgefallen?“
„Du hast es also wahrhaftig nicht bemerkt. Wirf einen Blick vor deine Füße.“
Deryk senkte seinen Blick gen Boden und sah es - ein kleines Opo-Opo-Jungtier. Es zitterte leicht am ganzen Körper und klammerte sich am Saum von Deryks Kleidung fest. Ein leises „Uga“ drang aus seinem Mund, als wolle es ihm etwas mitteilen.
„Was zum ...! Wo kommst du denn her ...?“
„Es hing bereits an deiner Kleidung, als du am Herbstkürbis-See angekommen warst. Wie es mir verraten hat, wurde es allein zurückgelassen und dazu noch von einer Bestie verwundet. Als es dich dann durch den Wald laufen sah, folgte es dir.“
Die größte Anzahl ihrer Verehrer befanden sich in Gridania, weshalb Nophica beschlossen hatte, ihre verbleibende Zeit im Finsterwald zu verbringen. Aus diesem Grund war es ihr anscheinend möglich gewesen, einen Großteil des Schauspiels mit eigenen Augen zu verfolgen. Nachdem sie die Worte des Opo-Opos an Deryk weitergegeben hatte, fuhr sie mit einem Lächeln fort.
„Für einen Wanderer hast du noch nie viel auf deine Umgebung geachtet ...
Man will sich gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn du jetzt einfach weiter nach Coerthas gereist wärst. Aber gut, ich habe dir mein Anliegen mitgeteilt, also werde ich mich wieder verabschieden.“
Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, verwandelte sich Nophica in eine Lichtkugel und verschwand in die Dunkelheit des Waldes. Deryk stand nun wieder allein auf dem Waldpfad und starrte mit verdutzter Miene den Opo-Opo an, der seinen Blick mit ebenbürtiger Intensität erwiderte.
In den großen Augen des Tieres konnte Deryk ein Verständnis dafür erkennen, dass es sich vor ihm nicht fürchten musste. Ohne Familie oder Rudel würde ein Jungtier wie dieses nicht lange im Wald überleben. Darüber hinaus wollte er es nicht zurücklassen und sein Vertrauen in ihn unbegründet hintergehen.
Somit entschied sich Deryk, dass er seine letzte Reise auch ebenso gut mit einem Gefährten an seiner Seite antreten könne. Von seinem Entschluss angetrieben machte er sich, geleitet von naheliegenden Lichtern, erneut auf den Weg. Seiner Erinnerung zufolge sollte sich am Ende dieses Pfades ein Grenzposten des Klageregiments befinden. Der kleine Opo-Opo gab ebenfalls sein Bestes, nicht den Anschluss zu verlieren. Nach ihrer Ankunft wendete sich Deryk sofort an einen der dortigen Soldaten.
„Verzeihung, aber gäbe es einen Platz an eurem Feuer für mich? Mein kleiner Freund hier hat sich verletzt und ich kann seine Wunden nicht richtig erkennen.“
Der Soldat nickte freundlich und ließ Deryk passieren. Dieser bedankte sich und setzte sich neben die Feuerstelle, hob den Opo-Opo vorsichtig hoch und untersuchte sein verletztes Bein mit einem gründlichen Blick. Tatsächlich fand er nach kurzer Zeit eine Wunde am Knöchel des Tieres. Um Fressfeinden möglichst keine Chance für einen Angriff zu geben, versuchen viele wilde Tiere, sich auch mit Verletzungen normal zu bewegen, selbst wenn jeder Schritt mit starken Schmerzen verbunden ist.
Deryk kramte in seinem Rucksack und zog eine Salbe heraus. Diese hatte er einst von einem reisenden Händler erhalten, der sich nach ihrem zufälligen Treffen Sorgen darüber machte, mit welch leichtem Gepäck Deryk auf Wanderschaft war. Es war Glück im Unglück, dass sich so kurz vor seinem Ende doch noch eine Gelegenheit geboten hatte, sie verwenden zu können. Mit diesen Gedanken verteilte er die Salbe auf dem Bein des Tieres, welches sich nach und nach entspannte und schließlich in Deryks Schoß zur Ruhe kam.
„Der Kleine ist ja ganz schön zutraulich, was? Aber mit einer verletzten Begleitung würde ich dir raten, den Bergpass nicht zu unterschätzen. Du kannst die Nacht gerne bei uns verbringen und uns von deinen Reisen erzählen. Wenn du aber lieber zum Herbstkürbis-See zurückgehen willst, ist das natürlich auch in Ordnung.“
Dies war der Ratschlag, den der Soldat des Klageregiments an Deryk richtete, während er ihm bei der Behandlung zusah. Der Wanderer ließ die Worte auf sich wirken und blickte zum Himmel empor. Die Dunkelheit war bereits vollends über den Finsterwald hereingebrochen und über ihm funkelten unzählige Sterne. Wäre es für ihn selbst zwar ein Leichtes, auch zu dieser Stunde noch bis nach Coerthas weiterzureisen, würde dies die Energie des Opo-Opos sicherlich übersteigen. Somit war es nur weise, dem Rat des Soldaten zu folgen.
Wären die Geschichten über den Kriminologen, die er einst zufällig in Ul'dah gehört hatte, wohl angemessen, um sich für die ihm entgegengebrachte Freundlichkeit zu revanchieren? Oder wie wäre es mit Erzählungen aus dem befreiten Ala Mhigo?
Diese Gedanken erweckten einen Bruchteil von Erinnerungen an eine weit entfernte Vergangenheit in Deryk. In diesen war er in ein Gespräch mit einer Frau vertieft, die er auf einer seiner Reisen getroffen hatte. Jene Frau sprach mit solch einem Feuer in den Augen, mit solch einer Vorfreude darüber, ihr noch unbekannte Orte zu erkunden. Und das, während sie sich gleichzeitig aller Probleme annahm, auf die sie auf ihrer Reise stieß.
Deryk ließ seine Gedanken wandern, in die Vergangenheit, die Gegenwart, und die Zukunft.
Die anderen Götter, die mit ihm in ihrem Entschluss vereint waren ...
Jene Frau, die dieses Gestirn so sehr liebte ...
Und er, dem sie diese Liebe vererbt hatte ...
Würden sie es ihm verzeihen, wenn sich seine letzte Reise doch etwas in die Länge ziehen würde?