Das sehnende Herz

Das Silberweiß von Zeros Rüstung hob sich scharf gegen die zerklüftete Landschaft ab, durch die das Halbwesen gerade zog. Bizarre Strukturen, die sich um sich selbst rankten und um Vorherrschaft über die Ödnis zu kämpfen schienen, türmten sich über ihr auf und ragten in den schwarzen Himmel. Wer auch immer der Herr dieses Territoriums war, der grimmige Anblick seiner Bauten verriet alles über seinen Geisteszustand, was Zero wissen musste. Ebenso war sie nicht überrascht davon, dass die Abscheulichkeiten, die sich nun aus den Schatten schälten und sich ihr in den Weg stellten, der Sprache nicht mehr mächtig waren. Nein, sie trieb nur noch eins – die unstillbare Gier nach Äther.

„Ich bin nicht hier, um euch herauszufordern. Eigentlich wollte ich nur mit euch sprechen“, erhob Zero dennoch das Wort. „Aber scheinbar lasst ihr mir keine andere Wahl. Auch wenn es eine Weile her ist, dass ich ein Schwert geführt habe.“

Trotzdem lag ihr die Klinge gut in der Hand – ein Gegner fiel nach dem nächsten, als sie sich gänzlich ihren geschulten Instinkten überließ. Erst, nachdem ihre Klinge ein auffällig massives Wesen durchbohrt hatte, hielt sie inne.

„Das war wohl dein Territorium, hm?“, stellte sie fest und steckte ihr Schwert zurück in seine Scheide.

Da wurde die allumfassende Finsternis von einem Lichtlein erhellt, als das Nixchen, das den Kampf aus sicherer Entfernung beobachtet hatte, wieder an ihre Seite geschwebt kam. Der Anblick des kleinen, hellen Wesens inmitten der Schwärze des Nichts war zu einem Symbol der Bande geworden, die Zero auf einem anderen Gestirn geknüpft hatte. Ein kleiner Kamerad, der sie auf ihren bislang so einsamen Wegen begleitete.


Doch just in dem Moment erhob sich ein Schatten aus dem Boden, der binnen eines einzigen Wimpernschlags zu einer abscheulichen Bestie heranwuchs und sich auf das Nixchen und seinen köstlichen Äther stürzte.

„Verdammt!“

Der Fluch, der über Zeros Lippen kam, als sie erneut zu ihrem Schwert griff, ging in einem tosenden Donnerknall unter. Ebenso plötzlich, wie er gekommen war, fiel der Feind auch schon dampfend zu Boden.

„Es gibt keinen größeren Feind als die Achtlosigkeit, Zero“, tadelte Golbez, während der eben gewirkte Zauber noch mit kleinen Blitzen zwischen seinen gepanzerten Fingerspitzen knisterte. Schwer hallten seine Schritte, als er sich zu Zero gesellte.

Die massive schwarze Gestalt war ihr zweiter Kamerad – mehr als das, er war ihr Freund.

„Danke, Golbez.“

Zero bekräftigte Golbez’ Warnung mit einem Nicken und fuhr fort.

„Wie du siehst, hatte ich wenig Erfolg. Die Bewohner dieses Territoriums sind scheinbar alle nicht mehr zu Gesprächen fähig.“

Als er dies hörte, hob Golbez seine Hand und begann, den freigesetzten Äther des soeben erschlagenen Unholds zu absorbieren. Und doch war er selbst ebenso Unhold wie ihr Feind – in der massiven, schwarzen Rüstung schlug längst kein sterbliches Herz mehr. Auch ihn gierte es nach Äther, auch er war von dem ewigen Verzehr abhängig. So wollte es das Nichts. Plötzlich hielt er inne.

„Zero, willst du dich nicht auch am Äther gütlich tun?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich esse grundsätzlich keine anderen Nichtswesen. Mir reicht es, die Ätherspuren aus der Luft zu absorbieren.“

„Du bist derart mächtig geworden, ohne je einen anderen verschlungen zu haben? Das sollte doch gar nicht möglich sein. Von der Frage der Moral einmal abgesehen ... Weshalb dieser Verzicht?“

„Ich hasse es, wenn ich eine fremde Seele in meinem Körper habe. Das fühlt sich an, als würde sie mit meiner eigenen verschmelzen. Und dieses Gefühl ... ist unerträglich für mich.“

„Also hast du durchaus schon einmal jemanden verschlungen?“, erwiderte Golbez.

Anstelle zu antworten, wandte sich Zero ab und schlug die Augen nieder. Es waren diese Momente, in denen sie ihren schattenspendenden Hut am meisten vermisste. Nun gab es nichts mehr, womit sie ihr Gesicht verbergen konnte. Nach kurzem Zögern holte sie Luft und begann, von damals zu erzählen ...


Zeros Mutter war eine Erwählte der Memoria – eine Kämpferin mit besonderen Kräften, die sich Ungeheuern namens Eidolon stellte. Eine Pflicht, die sie wieder und wieder schwärzester Dunkelheit aussetzte und Einfluss auf das Kind in ihr nahm. So wurde Zero als halb Sterbliche, halb Nichtswesen geboren.


Jetzt, wo dieses Kind längst erwachsen war und viele Jahrhunderte zählte, war die Erinnerung an seine Mutter so gut wie verblasst. Nur eine Gute-Nacht-Geschichte ist Zero nach wie vor im Gedächtnis geblieben, die ihre Mutter ihr des Öfteren erzählt hatte. In ihr ging es um den Helden Zeromus, der wie aus dem Nichts auftauchte, als die Welt in eine große Dunkelheit gehüllt war. Er war es, der ihr das Licht zurückbrachte. Selbst als Kind war Zero bereits klar gewesen, dass es sich hierbei um nichts weiter als ein Märchen handelte, und doch hatte sich die Geschichte tief in ihr Herz gebrannt.

Sogar die Erinnerung an das Gesicht ihrer Mutter, die schließlich im Kampf gegen die Eidolon ums Leben gekommen war, war dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen. Nur die Heldensage von Zeromus hatte es geschafft, ihr klar und deutlich im Gedächtnis zu bleiben, so fern sie der Realität des Halbwesens auch war. Denn auch, als alle Eidolon besiegt waren, hatte die Welt ihren Frieden nie zurückgefunden.


Jene, die sich so tapfer gegen den Feind gestellt hatten, betranken sich an ihrer eigenen Macht und verschrieben sich der Schwärze. Als Erwählte der Dunkelheit kämpften sie gegen die Erwählten des Lichts, deren Herzen noch nicht verdorben waren. Als es Zero ihrer Mutter gleichtat und das Schwert ergriff, um als Streiterin des Guten durch die Lande zu ziehen, war sie nicht auf Ruhm und Ehre aus. Sie war schlicht und einfach der Meinung, dass etwas mehr Licht in die Welt getragen werden musste.

Doch die Erwählten der Dunkelheit waren stark, verschlagen und vor allem zahlreich. Sie wusste, dass sie dieser Übermacht ohne Verbündete nicht gewachsen war, doch brachte es nicht über sich, jemand anderem zu vertrauen. Ganz gleich, wie gern die Nachbarskinder sie damals mochten, als sie herausfanden, dass Zero ein Halbwesen war, wandten sie sich von ihr ab. Einige bewarfen sie sogar mit Steinen. Und als Jahre später ein Ritterspaar die Hand ausstreckte und fragte, ob man sich nicht zusammenschließen wollte, da spürte Zero die spitzen Steine auf ihrer Haut und lehnte ab. „Hätte ich damals doch nur eingeschlagen ... Wäre ich doch nur stärker gewesen ...“, seufzte sie nun zähneknirschend.

Letztlich war sie der schieren Zahl der Erwählten der Dunkelheit nicht gewachsen. Und als sie allein und geschlagen auf dem kargen Boden lag, zerbrach die Welt. Später nannte man diese Katastrophe die Flut der Dunkelheit. Sie schluckte das Licht der Sterne und hüllte das ganze Gestirn in ihren schwarzen Schleier. Und wäre Zero nicht durch einen Riss in Raum und Zeit gefallen, wäre auch sie von der Finsternis hinfort gewaschen worden. Jahrhunderte lang trieb sie durch die Leere, aber sie behielt dadurch ihre sterbliche Hälfte bei, anstelle sich wie alle anderen in ein Nichtswesen zu verwandeln.

Irgendwann fand Zero einen Spalt, der sie zurück in ihre Welt trug: Der Boden war verrottet, der Himmel eine nimmer endende Schwärze und die Heimat, die sie einst kannte, trieb als toter Planet im ewigen Nichts. Kein Vogel sang, kein Reh sprang über die Flur und selbst die Pflanzen waren der Dunkelheit anheimgefallen. Nein, dieses Land konnte kein Leben mehr hervorbringen.

Zero setzte einen erschöpften Fuß vor den anderen, stets darauf bedacht, nicht im schwarzen Schlamm zu versinken. Und mit jedem Schritt schwand die Hoffnung, doch noch auf Überlebende zu stoßen. Auf jemanden, der übrig geblieben war. Doch gerade, als die Verzweiflung sie zu verschlingen drohte, drang eine Stimme an ihr Ohr: „Kann mich jemand hören? Ist ... Ist denn da niemand ... der mir helfen kann?“

Dies allein war genug, um sie zu beflügeln. Zero rannte los – sie hatte weder Schild noch Schwert und konnte sich selbst kaum noch auf den Beinen halten, aber all das erschien in diesem Moment unwichtig. Jemand lebte! Und dieser Jemand brauchte ihre Hilfe!

„Halt aus, ich komme! Wo bist du?!“, rief sie.

„Hier bin ich ...“ schnarrte die Stimme plötzlich direkt in ihrem Nacken.

Aus dem Augenwinkel sah Zero eine gigantische Klaue auf sich herabfahren. Ihr Instinkt ließ sie ihren Körper in letzter Sekunde zur Seite drehen. Als sie herumfuhr, starrte ihr eine monströse Fratze entgegen, die weder Nase noch Augen besaß. Lediglich ein riesiges, reißzahnbesetztes Maul grinste ihr entgegen.

„Oho ... Jemandem mit sterblicher Gestalt bin ich schon sehr lange nicht mehr begegnet.“

Als Zero diese Worte hörte, wurde ihr mit einem Schlag klar, was mit den Bewohnern ihrer Heimat geschehen sein musste. Und dass sie, das verstoßene Halbwesen, wohl die Einzige war, die keine groteske Wandlung vollzogen hatte.

Sie war allein. Egal, wohin sie auch gehen und wie sie reisen würde, in dieser toten Welt war sie mutterseelenallein.

„Gerade, wo der Hunger besonders schlimm an mir nagt, läuft mir die perfekte Beute in die Arme ... Komm, ich will mich an deiner Stärke laben!“

Die Bestie gab ein schauriges Brüllen von sich und streckte ihre scharfen Klauen nach Zero aus, doch diesmal war sie vorbereitet. Zum Kämpfen fehlte ihr die Stärke, hatte sie doch nicht einmal eine Waffe, aber merkwürdigerweise dachte sie auch keinen Herzschlag lang an die Flucht.

„Selbst wenn die Welt gestorben ist ... Nein, gerade weil die Welt gestorben ist, werde ich ihr es jetzt nicht gleichtun!“

Kaum, dass sie ihm diese Worte entgegenschmettert hatte, ein eisernes Zeugnis ihres Willens, geriet die Dunkelheit um sie herum in Bewegung. Und als wäre sie von Zeros Worten bewegt, schmiegte sie sich in ihre Hand und verfestigte sich zu einer Sense – die Zero prompt fester griff, als sie sich auf das Ungeheuer warf. Eins mit ihrer neuen Waffe glitt sie in einer eleganten Drehung durch die Finsternis und teilte ihren Feind mit einem innigen Schrei entzwei.


Überrumpelt von der Macht ihres eigenen Streichs landete sie unsanft auf dem kargen Boden und spürte plötzlich die Erschöpfung von hunderten von Jahren Einsamkeit und Leere in ihre Knochen zurückkehren.

„Muss ich auch ... Äther fressen?“

Es mag ihr Instinkt als Nichtswesen gewesen sein, der sie zu diesem Gedanken trieb, denn keinen Moment später griff sie nach dem freigesetzten Äther des gerade besiegten Ungeheuers und verschlang ihn. Er erfüllte jede Faser ihres Körpers und nährte sie nicht nur mit neuer Energie, sondern erfüllte sie auch mit einer bislang ungekannten Stärke. Doch noch während sie sich an ihrer Mahlzeit labte, regte sich ein scharfer, brennender Widerstand in ihrem Geist.

„Ja, mehr! Friss, friss mehr! Friss alle auf, dann werden wir die Allerstärkste weit und breit!“, schnitt eine fremde Stimme in ihre Gedanken.

Es war die Stimme des Monstrums, das sie gerade selbst erlegt hatte! „Du! W-Was redest du da?!“

Das fremde Bewusstsein wühlte in ihrem Geist, schlug seine Wurzeln tief in ihre Seele und schien plötzlich jede Faser ihres Körpers zu durchdringen. So sehr sie es auch versuchte, dieses Ding ließ sich weder unterdrücken noch wegwischen. Es war nicht tot – der Tod hatte keine Bedeutung mehr in dieser Welt, die sie einst ihre Heimat nannte. Stattdessen lebte diese fremde Seele nun in ihr weiter, weil sie sie gefressen hatte. Und je mehr Seelen sie fräße, desto kleiner und kleiner würde ihr eigenes Selbst werden ... Nein. Das durfte nicht passieren.

„Du bist stur ... Wie hast du es nur so lange geschafft, deine Gestalt beizubehalten, hrm? Lass mich einen Blick in deinen Geist werfen ...“, schnitt die fremde Stimme in ihre Gedanken und riss ein Loch in ihr Bewusstsein, um alles hervorzuzerren, was Zero so sorgfältig weggeschlossen hatte.

Ein kleines, schüchternes Mädchen, dem alle mit Furcht und Abscheu begegneten, das vergessen geglaubte Gesicht ihrer Mutter und ...

„Eine Steinstatue ...? Von wem? Und wieso sitzt sie so fest verankert in deinem Herzen fest?“

Zero stemmte sich mit all ihrer Macht gegen das Graben, Bohren und Forschen, aber diese fremde Abscheulichkeit war nun eins mit ihr. Ihre Gedanken waren verschmolzen.

„Ich wollte eine Heldin werden“, gab sie nach, dem Bohren im Geist zumindest mit ihren eigenen Worten antwortend. „Genau wie Zeromus wollte ich alle retten ...“

Ein Lachen erschallte in Zeros Kopf. Sie sah die Bestie vor sich, wie sie dabei die Reißzähne in ihrer Fratze fletschte.

„Das ist zu köstlich! Weißt du denn nicht, wie diese Geschichte ausgeht?“, spöttelte es und klärte sie prompt auf: Zeromus hatte die Welt gerettet, ja, aber die Leute fürchteten seine gewaltige Macht und brandmarkten ihn als Monstrum. Letztlich verschwand er und war nie mehr gesehen.

Hatte Zeros Mutter dieses Ende nur nicht gekannt oder es ihr absichtlich verschwiegen? Es war einerlei – Zero wusste, ihr Herz würde nicht wanken.

„Und wenn schon. Dann werde ich eben ein Monstrum! Solange ich das Licht in mir trage, kann und werde ich diese Welt retten!“, schmetterte sie der fremden Entität in ihrem Geist entgegen – und statt einer höhnischen Antwort war da plötzlich nur noch Stille.

Die Stimme in ihrem Kopf war verschwunden und ihre bitteren Wurzeln, die sich so tief in ihre Seele gegraben hatten, nicht mehr zu spüren. Zero war wieder sie selbst, ganz allein sie selbst. Freuen konnte sie sich darüber allerdings nicht. Der Schock, ihre intimsten Gedanken und Erinnerungen derart offengelegt zu sehen, steckte ihr zu tief in den Knochen.

„Was sage ich denn da ... Was soll ich in dieser kaputten Welt denn noch retten?“, murmelte sie in die Schwärze hinein und setzte ihren Weg fort. Eine Reise ohne Ziel.

Wieder und wieder musste sie sich gegen Feinde wehren, doch ihren Äther fraß sie nie mehr. Ein ums andere Mal starb sie gar einen Hungertod – falls man es überhaupt so nennen konnte. Der Tod war mit allem anderen gestorben, was diese Welt einst ausmachte, und so erwachte sie jedes Mal aufs Neue. Hunderte, tausende Jahre lang lebte sie, starb sie und stand wieder auf, im nimmer endenden Kreislauf des Nichts. Und mit der Zeit kroch die Dunkelheit in ihr Herz und legte ihren schweren Schleier über Wünsche, Träume und Erinnerungen ...


„Auch ich hatte so viel verloren. Erst dank dir kam meine Erinnerung zu mir zurück“, sagte Golbez sanft, als Zero in Schweigen verfiel. „Es ist unser starker Wille und das eiserne Streben nach Macht, die uns davor schützen, unser Selbst zu verlieren. Ganz gleich, wie viele Seelen wir verschlingen. Aber du hattest Zweifel, damals – eine Schwäche, die dein Feind sofort zu nutzen wusste.“

Zweifel? Nein. Zero schüttelte den Kopf. „Ich wollte es mir schlicht nicht eingestehen. Dass ich, schwach und einsam, wie ich war, trotz alldem noch auf einen Helden hoffte.“ Sie hob die Augen und blickte in das endlose Schwarz des toten Himmels. „Weißt du ... Ich habe mich immer gefragt, was diese Steinstatue im Zentrum meines Territoriums eigentlich sollte. Inzwischen habe ich es endlich begriffen. Zeromus wollte die Welt retten, auch wenn man ihn für ein Ungeheuer hielt. Und der Wunsch nach genau so einem Helden war ganz tief in mein Herz gebrannt.“

Golbez‘ Blick ruhte lange auf Zeros nachdenklichen Zügen, ehe er sich schließlich abwandte. „Dann will ich es dir gleichtun und keine Seelen mehr verschlingen. Mein Wunsch, unser Gestirn zu retten, würde dadurch nicht vergehen, aber ... Mein jetziges Selbst ist mir teuer. Ich will es hüten.“

Als er diese Worte sprach, konnte Zero nicht anders, als ihn verdutzt anzuschauen. Doch natürlich blieb sie stumm und erlaubte sich lediglich ein schmales Lächeln. „Na dann komm, gehen wir weiter. Irgendwo auf dieser Welt muss es jemanden geben, der genauso denkt wie wir.“