Wurzeln des Hasses, Knospen der Freundschaft
Weißer Qualm stieg aus den verkohlten Holzzäunen zu Seiten des regenfeuchten Bergpfades auf, halbverbrannte Heuhaufen schwelten. Wie besinnungslos rannte der Knabe daran vorbei, strauchelnd, immer weiter, hustend von dem beißenden Rauch, der ihm vom Dorf her entgegenwehte und ihm den Atem raubte. Halone, mach, dass ihnen nichts passiert ist ...
Doch die Hoffnung, an die er sich verzweifelt klammerte, wurde ihm jäh geraubt. Vom Gartentor aus schon sah er sie liegen - verkohlt, entstellt. Maßloses Entsetzen ergriff ihn. Mutter! Vater! Das darf nicht wahr sein. Es darf einfach nicht wahr sein. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Bruder, durchzuckte es ihn. Sei du unversehrt. Wenigstens du.
Die Decke war eingebrochen und Staub und Asche bedeckte den Hausrat, all die vertrauten Dinge. Über die zerborstenen Dachstreben kletterte er in das hintere Zimmer, und dort fand er seinen kleinen Bruder – von einem Balken erschlagen.
Ihm war, als hätte man ihm alle Eingeweide herausgerissen, die Welt schien tausend Malme entfernt. Betäubt kniete er sich zu dem Knaben und strich ihm die silbernen Haare aus dem Gesicht. Dann überwältigte ihn der Schmerz und beutelte seinen schmächtigen Körper. Wieso, Halone? Wieso ...?Seine Familie, alles, was ihm etwas bedeutet hatte, alles für immer verloren – alles bis auf sein Leben und die paar Schafe, die er gehütet hatte, als es geschah. Verflucht seist du, Nidhogg, verflucht bis ans Ende aller Tage.
„He! Hallo! Bist du am Leben?“
Estinien schrak auf.
„Alberic ...“
Verschwommen sah er die Gestalt eines Mannes. Unwillkürlich hatte er den Namen seines Adoptivvaters gemurmelt, doch der war es nicht, der sich da zu ihm herabbeugte.
„Alberic? Leider nicht. Mit ihm an unserer Seite hätten wir uns sicher besser geschlagen. Hier, trink erst mal.“
Das Wasser aus dem Lederschlauch ließ ihn wieder zu klarem Bewusstsein kommen. Er musterte den schwarzhaarigen Jüngling im Kettenhemd, der mit dem Ausdruck ernster Besorgnis neben ihm kniete. Wohl etwa in meinem Alter, dachte Estinien. Und ein Tempelritter wie ich.
Er machte keine besondere Anstrengung, sich den Namen seines hilfsbereiten Kameraden in Erinnerung zu rufen. Wahrscheinlich hatte er ihn sowieso schon in dem Moment vergessen, als er ihn hörte. Seine Berufung war es, sich irgendwann an den Drachen zu rächen. Dafür übte er sich Tag und Nacht im Lanzenkampf, es war sein einziges Ziel. Ob andere Tempelritter dann an seiner Seite stehen würden, war ihm einerlei.
„Vielen Dank. Äh ...“
„Aymeric. Wir sind in derselben Einheit.“
Estinien nickte abwesend.
„Und die einzigen Überlebenden. Wenn das kein Wunder ist!“
Nun erst blickte sich Estinien um, und was er sah, ließ ihm den Atem stocken. Knapp ein Dutzend Ritter lagen reglos auf der rauchenden, kahlgebrannten Erde, die Rüstungen rußgeschwärzt und die Gesichter zur Unkenntlichkeit entstellt, zwischen ihnen vereinzelt schwelende Glutnester. Endlich begriff er, wo er war. Unser Einsatz! Sie hatten Nachricht von einer Drachensichtung im zentralen Tiefland erhalten und waren am Morgen aufgebrochen, um bei den Ewigen Seen nach dem Rechten zu sehen.
Alles ruhig, verhaltene Erleichterung bei den Kameraden. Erst als sie auf ihrer Patrouille zu einer offenen Weide gelangten, schlug das Ungeheuer zu. Es musste sich hinter den nahen Felsen verborgen gehalten haben, ein riesiger Drache, der eigentlich gar keiner Deckung bedürfte. Sein lodernder Atem versengte alles, was sich ihm entgegenstellte, und nur mit letzter Kraft konnten die Ritter ihn in die Flucht schlagen. Der hasserfüllte Blick des Drachen, als er fauchend vor seiner Lanze zurückwich, war das Letzte, woran sich Estinien erinnerte, bevor ihn der Rauch bewusstlos zusammenbrechen ließ.
Derselbe Qualm feuchten Heus, derselbe Geruch von verschmortem Fleisch.In dem Moment traf ihn die Erinnerung wieder mit voller Wucht. Die Leichen der Kameraden verwandelten sich vor seinen Augen in seine Eltern, seinen Bruder. Alles kam wieder zu ihm zurück. Alles war real, es gab kein Vergessen. Der Hass brandete in ihm auf und riss ihn in einer irren Welle fort. Rache. Keine einzige dieser götterverfluchten Bestien soll am Leben bleiben. Keine einzige.
„Überleben ist meine Spezialität“, brachte Estinien mühsam hervor.
Er schüttelte den Schwindel ab, nahm einem toten Kameraden die Lanze aus der Hand und schritt leicht hinkend davon.
„He! Das ist die falsche Richtung! Nach Ishgard geht’s da lang!“
„Meine Aufgabe wartet da draußen. Kehr du ruhig zurück. Feiere dein wiedergewonnenes Leben.“
„Warte! Und was ist mit deinem? Der Drache wird dich in einen Hinterhalt locken!“
Estinien lächelte schief.
„Schau mal auf den Boden – ich habe dem Biest meine Lanze in den Bauch gerammt. Ich brauche nur der Blutspur zu folgen.“
Und dann vergelte ich dir meinen Albtraum, Drache ...
Nach mehreren Stunden fand Estinien den Drachen. Er hatte sich in eine Höhle zurückgezogen, wo er zusammengekrümmt lag und mühsam atmete.
Estiniens Hand bebte. Hätte ihn sein Hass nicht auf den Beinen gehalten, wäre er auf der Stelle zusammengebrochen, das wusste er nur zu gut. Diesen Kampf musste er rasch entscheiden, sonst würde er unterliegen.
In der Grotte war alles ruhig. Er sammelte sich und legte die Lanze an; dann stürmte er mit Todesverachtung nach vorne. Sofort bemerkte ihn der Drache und hob den Kopf. Ein gewaltiger Feuerschwall loderte dem Angreifer entgegen. Geistesgegenwärtig stürzte sich Estinien unter den Flammen hindurch auf das Ungetüm zu. Er sah die schuppige Haut der Kreatur dicht neben sich, ihre Ausdünstungen brannten ihm in den Augen, bissen in sein Fleisch. Er richtete sich auf und stieß mit aller Kraft zu, doch der Speer fuhr ins Leere; ein neuer, blindwütiger Versuch. Nun durchbohrte der Stahl den ledrigen Flügel des Drachen und schlitzte ihn fast über die halbe Spannweite knapp unterhalb des Knochens auf. Die Echse bäumte sich auf und riss die zerfetzte Schwinge mit einem Brüllen hoch.
Treffer, dachte Estinien in leisem Triumph.
Damit waren die Karten neu verteilt. Der Drache war flugunfähig und konnte nur noch in plumpen Sprüngen in der Höhle manövrieren. Jetzt gab es kein Entrinnen mehr – der junge Tempelritter gegen den riesigen Drachen, beide erfüllt von Schmerz und Hass und dem sicheren Wissen, dass einer von ihnen hier sein Grab finden würde.
Estinien nutzte die Vorsprünge und Steinsäulen der Höhle geschickt aus, um den Angriffen auszuweichen, doch er war zu sehr in Bedrängnis, um zu bemerken, wie die mächtigen Hiebe das Gestein erschütterten. Plötzlich löste sich eine Scharte brüchigen Felses aus der Decke und brach auf den Ritter herab. Instinktiv schützte er den Kopf, als die Steinbrocken um ihn herum einschlugen. Er hatte Glück, doch für einen kurzen Moment war er abgelenkt.
Der Drache verschenkte die Gelegenheit nicht. Mit einem Satz stürzte er auf ihn zu und ein gewaltiger Schwanzhieb schmetterte den Ritter mit ungebremster Wucht gegen die Höhlenwand.
Er rang nach Luft. Alles drohte vor seinen Augen zu verschwimmen. Nicht ohnmächtig werden, nur das nicht. Der Drache kam näher. Er fühlte die Erschütterung seiner Schritte, das Schleifen des Schwanzes am Boden, das Scharren der Klauen.
Mit unendlicher Anstrengung konnte er die Finger um seine Lanze legen, doch zu spät – als er aufblickte, sah er den Drachen bereits direkt über sich. Entsetzt beobachtete er, wie matte Lichtreflexe über die tausend kleinen Schuppen glitten, während sich die Lungen des Drachen immer mehr füllten. Jeden Moment würde er ihn mit seinem glühenden Atem zu einem Häufchen Asche verbrennen.
Das war’s.
Doch so sollte es nicht enden. Plötzlich riss der Drache den Kopf herum und die Flammen entwichen, ohne Estinien zu streifen. Zwar begriff er nicht, was da passierte, aber er zögerte keine Sekunde. Mit einem Satz war er auf den Beinen und setzte zum Sprung an. Instinktiv wusste er, dass er es konnte. Er stieß sich vom Grund ab, sprang hoch wie nie zuvor. Mit jedem Ilm fühlte er die Kraft in sich wachsen. Die Echse war tief unter ihm. Er drehte seinen Körper in der Luft, umklammerte die Lanze und fuhr, die Speerspitze voran, mit aller Wucht auf den Drachen herab.
Fiepend durchbohrte der Stahl seine Lungen. Das Brüllen des Drachen widerhallte in jeder Nische, als er sich in Agonie wälzte und wand. Einmal bäumte er sich noch auf, dann erschlaffte der gewaltige Körper.
Estinien starrte klopfenden Herzens auf das Reptil.Er hatte überlebt und der Drache war tot. Sein erster großer Drache, besiegt mit der Sprungattacke des Azur-Drachenreiters, die er bisher nicht nachzuahmen vermocht hatte.
„Gut gemacht.“Estinien fuhr herum. Ein Umriss hob sich gegen den hellen Höhleneingang ab – ein Mann mit einem Köcher in der Hand. Nun erst bemerkte er den Pfeil, der im Auge des Drachen steckte.
„Du ...? Du bist mir gefolgt!“
Aymeric grinste.
„Natürlich. Sollte ich nach Hause spazieren, während du dich halbtot einem Drachen in den Schlund wirfst?“
„Ich ... ich stehe in deiner Schuld.”
„Die kannst du mit ein paar Krügen Bier begleichen, wenn wir wieder in Ishgard sind. Und indem du dir endlich meinen Namen merkst.“
Jetzt musste auch Estinien grinsen. Ja, in der Tat. Aymerics Name war es wahrhaftig wert, sich an ihn zu erinnern.
Die Träumerin
So ein winziges Ding, dachte Ysayle während sie den Kristall in ihrer Handfläche wog. Wie pures Wasser, das zu Eis gefroren ist und Spuren eines zarten Blaus in seinem Inneren einschließt ... Sie umschloss ihn mit aller Kraft und öffnete dann langsam wieder ihre Hand. Den Blick himmelwärts gerichtet stieß sie einen Seufzer aus und setzte ihren Weg fort.
Über rissiges Pflaster und die uralten Stufen hinauf. Als ich diesen Weg das letzte Mal beschritt, war ich nicht allein. Weiter durch den antiken Bogen und über heruntergefallene Steine. An dem sich drehenden Ätheryten vorbei und auf die gewundene Rampe.
Der Krieger des Lichts, der junge Diplomat, der Drachenreiter ... und die Träumerin. Wie weit wir doch gekommen sind, und wie wenig wir erreicht haben.
„... ein Trugbild, das deinen eigenen Hoffnungen entsprungen ist.“
Der Kreidetempel war der Ort, an dem ihre Träume endeten – wo ihr Geliebter Hraesvelgr sie eine Betrügerin und einen Dummkopf schimpfte. Und dann wählten meine neuen Gefährten den Weg der Gewalt und ich war zu ohnmächtig, um sie davon abzubringen.
Wie verzweifelt wir uns nach Dingen sehnen, die wir verloren haben.
Hör hin ... Fühl es ... Denk nach ...
Vor fünf Jahren war sie vor dem Schnee ins Dravanische Vorland geflohen und auf ihren Reisen durch dieses ihr unbekannte Gebiet zufällig auf den Hohen Drachen Hraesvelgr gestoßen, der sich aus dem Himmel zur Jagd in niedere Gefilde begeben hatte. Oder hatte ich ihn irgendwie heraufbeschworen?
Dank seiner Erinnerungen hatte sie sie einen Blick auf die Wahrheit hinter einer tausendjährigen Lüge werfen können. Ein ewiges Klagelied auf den grausamen Tod seiner Schwester. Was sonst hätte ich damals tun sollen, als mich und meine Stimme zu erheben? Und so kam es, dass sie nach vielen Jahren der Leiden und Mühen, voller geheimer Nachrichten und konspirativer Treffen, eine eingeschworene Schar um sich gesammelt hatte.
Es ist noch nicht zu spät, meine Freunde! Kommt und hört Eisherz sprechen! Kommt und hört Eisherz sprechen!
„Die Wahrheit verbreiten und diejenigen, die sie zu verbergen suchten, zur Rechenschaft ziehen. Ich war mir so sicher, dass dies genügen würde ...“
„Die Sterblichen mögen keine Veränderung.“
Ysayle spürte, wie Hraesvelgrs Augen auf ihr ruhten, während seine Stimme in ihrem Inneren erklang. Jedes seiner Worte war wie ein Dolchstoß in ihr Herz. Sie konnte sich nicht dazu bringen, ihm ins Antlitz zu schauen.
„Und dennoch, ich musste daran glauben ...“
Sie hatte keine Ahnung, was die Ul’dahner im Schilde führten. Aber wir sind bereits zu weit gekommen, um nun aufzugeben. Und so ward ein Ausgleich gefunden und der Händler versorgte sie mit der Ausrüstung und den Informationen, die sie benötigten. Während der Großmeister und seine Verbündeten ihren Sieg feierten, würden sie Vishaps Werk vollenden. Und das taten wir auch.
Feuer und Blut. Und Schreie ... so viele Schreie. Meine eigenen stimmten in den Chor ein, sie riefen nach Ordnung und Gerechtigkeit ... aber es sollte keine geben. Die Leute kämpfen, rennen und sterben – ohne Grund, ohne Sinn und Verstand. Ich spreche zu ihnen, aber sie hören nicht. Ich sehe das Mädchen, gerade mal zehn Jahre alt, wie sie sich in den Trümmern versteckt. Der Wyvern sieht sie auch. Ich bitte. Ich flehe. Ich bete ...
Ich bete.
Schließlich brachte sie die Worte heraus. „Ich habe deine Erinnerungen zu einer von mir erschaffenen Fantasie verdreht, um meine eigenen selbstsüchtigen Träume zu verwirklichen.“
„Deswegen bist du hergekommen? Du willst um Vergebung bitten?“
„Nein“, erwiderte sie, während sie ihren Kopf hob, um seinem Blick zu begegnen. „Ich bin hier, um Buße zu tun.“
Ich war schon einmal hier, mit jenen, die ich für meine Feinde hielt. Doch in Wahrheit sind sie aufrichtigere Verbündete als die von Hass Getriebenen ...
„Ich möchte zu ihnen stoßen – zu dem Krieger des Lichts und seinen Gefährten. Ich möchte ihre Sache ein weiteres Mal unterstützen. Aber ich weiß nicht, wohin es sie verschlagen hat ...“
Der Hohe Drache betrachte sie eine Weile stumm. „Der Dragoon trägt das Auge meines Bruders nach Azys Lla ... und zu dem anderen Auge.“
„Dann kannst du die Augen spüren ...“ Sie machte einen Schritt nach vorne. Ich flehe dich an: Bitte bring mich zu meinen Kameraden. Lass mich an ihrem Kampf teilhaben!“
Hraesvelgr fletschte seine Zähne leicht. Ein Lächeln vielleicht? „Eine solche Macht war niemals für die Hände der Sterblichen bestimmt. Doch sie werden sie stets begehren. Besitzt du die Stärke, ihnen ihren Schatz zu nehmen?“
Sie griff nach dem vertrauten Objekt in ihrem Beutel und die Kühle des Kristalls verschaffte ihr ein seltsam behagliches Gefühl. So ein winziges Ding. „Ja“, sagte Ysayle. „Das tue ich. Leih mir deine Schwingen, Hraesvelgr!“ Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, schien ihr Bewusstsein zu wandern.
Meine Schwingen? Darum hatte mich Shiva vor so langer Zeit gebeten. Wir schweben durch azurblaue Himmel, ihr Lachen ist Musik in meinen Ohren. Als ich meine Schwingen zusammenlege und in den Sturzflug übergehe, hält sie mich fest umklammert und gräbt ihr Gesicht in meinen Rücken.
Ysayle zwinkerte. Der Gesichtsausdruck des Hohen Drachen verriet ihr nichts. Er spürt es. Er ließ seinen Kopf herunter und sie kletterte ohne ein Wort zu sagen auf seinen Rücken.
Ich breite meine Schwingen aus, spanne meine Beine an und drücke mich ab ... Ja ... Ich erinnere mich ...
Sie versuchte verzweifelt, zu vergessen.
Die Stunden vergingen, während der Himmel sich zunehmend verdunkelte und zuzog. In der Ferne glimmte ein Licht. Ein Licht, das etwas Düsteres ausstrahlte ...
Hraesvelgrs Stimme drang an ihre Ohren. „Er zieht Kraft aus der Macht des Auges.“
Als sie näherkamen, entdeckte sie ein kleines Luftschiff inmitten einer Masse aus wirbelndem Äther. Der rot-schwarze Strudel nahm an Intensität zu und wurde von einem zunehmendem Brummen begleitet. Beides stoppte urplötzlich, als der Klang von zerspringendem Glas ertönte.
„Wir müssen uns beeilen“, sagte Ysayle. „Unter ihnen, sieh nur!“
Ein gewaltiges Schlachtschiff der Garlear erhob sich aus den Tiefen und positionierte sich genau hinter dem kleineren Luftschiff. Nur wenige Augenblicke später war die Luft von dem Donnern der Kanonen erfüllt.
Nein ... So darf es nicht enden. Das lasse ich nicht zu!
„Die Zeit ist gekommen, dein Geschenk einzusetzen, Hydaelyn ...“, flüsterte sie und zog den Kristall aus ihrem Beutel. „Für all die Opfer, die mein einfältiger Glaube an meine selbsterschaffene Gerechtigkeit forderte ...“ Sie presste ihn an ihre Brust und spürte, wie die Kälte ihre Haut durchdrang. „Shiva ... Hraesvelgr - Bitte verzeiht mir ... Selbst jetzt wünsche ich mir nur, dass all die kalten Herzen sich erwärmen ... in einer Zeit des wahren Friedens.“
Mit einem Brüllen erhob sich Hraesvelgr hoch über das Schlachtschiff. Ysayle atmete tief ein, schloss ihre Augen und ließ los.
Niemals wieder würde ich jemandem Schaden zufügen, schwor ich mir. Niemals wieder sollte ein Tod auf meinem Gewissen lasten ...
Ysayle fühlte, wie Hraesvelgr sich entfernte, während sie fiel und sich in einem Hagel aus Kanonenschüssen wiederfand. Langsam öffnete sie ihre Augen.
„Danke, Hraesvelgr.“ Und vergib mir.
Dann sprach sie.
„Oh Göttin, Geschöpf meiner Wünsche und Träume - noch ein Mal bitte ich dich! Erfülle meinen Körper mit göttlicher Kraft, o Shiva! Für den wahren, immerwährenden Frieden!“
Der Kristall wird zu Licht und wir sind wieder eins. Wärme. Mein Verstand wird vernebelt, mein Wesen schwindet, aber ich halte fest an meinen Erinnerungen.
Wir schweben durch azurblaue Himmel ...
Die Silberklinge
Das Grab lag in Sichtweite der Heiligen Stadt, und die Blumen darauf waren noch nicht verwelkt, als eines Morgens dort sein Schild stand, angelehnt an den aufrechten Grabstein.
Nicht nur das Wappen - ein rotes Einhorn auf schwarzem Grund, das Emblem des Hauses Fortemps – ließ ahnen, wem der Schild gehörte. Das Loch, das in seine Mitte gebrannt war, stammte von der gleichen Lanze, die auch seinen Träger durchbohrte. Francel erschauerte beim Anblick dieses brutalen Zeugnisses vom Tod seines Freundes, und er fuhr mit den Fingern über die Kanten des geschmolzenen Metalls, als würde die Berührung ihn den letzten Augenblicken seines Freundes näher bringen.
„Warum musstest du nur ...?“
Er löste den Griff um die Blumen, die er mitgebracht hatte – sie waren gänzlich zerdrückt.
Das erste Mal hatten sie sich vor fünfzehn, nein, sechzehn Jahren getroffen. Francel war damals gerade sechs Jahre alt geworden und sein Vater, Graf Haillenarte, nahm ihn mit auf ein Bankett des Grafen Fortemps, um ihn mit den höfischen Regeln und Gebräuchen vertraut zu machen. Der junge Francel hatte die Titel und Anreden der Gäste auswendig gelernt und gab sich beste Mühe, sie fehlerfrei zu rezitieren, aber die steifen Umgangsformen waren ihm zuwider. Nach den endlos scheinenden Begrüßungen ließ er sich erschöpft auf seinen gepolsterten Sitz fallen. Sein Vater blickte ihn zufrieden und stolzerfüllt an, und erlaubte seinem pflichtbewussten Sohn, sich draußen vor dem Anwesen etwas abzukühlen. Francel nahm einen Teller seines Lieblingspuddings und stahl sich davon.
„Ha! Huuu-ah! Ho!”
Kaum hatte Francel ein gemütliches Plätzchen gefunden, an dem er sich seinem Pudding widmen wollte, da bemerkte er einen silberhaarigen Jungen, der – höchst befremdlich, wie Francel fand – mit entblößtem Oberkörper ein Holzschwert schwang, ein ums andere Mal.
„Was machst du denn da?“
Francel sprach die Worte, ohne über sie nachgedacht zu haben. Der andere erschrak, hatte er doch seinen Beobachter nicht bemerkt, und antwortete geradewegs heraus.
„Ich übe mich im Schwertkampf. Was denn sonst?“
Francel dachte, dass außer ihm jeder seinen Gefallen an einem Bankett haben sollte, und wunderte sich, hier draußen jemanden anzutreffen.
„Aber warum bist du nicht auf dem Bankett?“
„Was interessiert mich das Bankett? Meine Stiefmutter will mich sowieso nicht da haben und meinem Vater ist’s egal, also trainiere ich lieber. Ein guter Ritter braucht einen starken Schwertarm.“
Francel war damals zu jung, um zu verstehen, was es für Haurchefant bedeutete, der uneheliche Sohn seines Vaters Graf Fortemps zu sein und von dessen Gemahlin, der Gräfin, seiner Stiefmutter, nicht mit mütterlicher Liebe bedacht zu werden. Er freute sich nur, einen Gleichgesinnten gefunden zu haben, dem höfische Festessen zuwider waren.
„Dann iss doch diesen Pudding mit mir. Der macht dich groß und stark.“
Haurchefant schnaufte erst verächtlich, besann sich dann aber eines Besseren und setzte sich zu dem kleinen Francel. Und mit diesem Pudding begann ihre Freundschaft.
Viele Gemeinsamkeiten verbanden Francel und Haurchefant nicht. Zwar waren sie beide Söhne eines Adelshauses, doch Haurchefants mangelnde Legitimität bedeutete einen unübersehbaren Unterschied in ihrer gesellschaftlichen Stellung. Ihre Charaktere war geradezu gegensätzlich: Francel belesen und sanftmütig, Haurchefant kämpferisch. Dazu kam ein Altersunterschied von sechs Jahren. Doch all dies tat ihrer Freundschaft keinen Abbruch, und vielleicht waren es gerade diese Gegensätze, die sie näher zueinander brachten. Francel bewunderte Haurchefants Stärke, und Haurchefant fand in Francels Freundlichkeit die Wärme, die er in seiner strengen Stiefmutter misste.
Fünf Jahre nach ihrer ersten Begegnung geschah, was die beiden für immer miteinander verbinden sollte. Francel nahm auf Geheiß seines Vaters an einer berittenen Jagd am Dümpelschuppensee im östlichen Coerthas teil – ein gesellschaftliches Ereignis von gewisser Bedeutung, bei dem die eitlen Adligen Ishgards sich in ihren Chocobo-Reitkünsten zu übertreffen versuchten. Eine gute Gelegenheit für den elfjährigen Francel, seine Talente als Ritter unter Beweis zu stellen.
„Beobachte die Falken. Sie weisen dir den Weg zu deiner Beute.“
Aufmerksam lauschte Francel den Ratschlägen seines Vaters und schwor sich, ihm keine Schande zu bereiten. Sein Vater sollte stolz auf ihn sein können.
„Ich werde die Jagd gewinnen!“
Francel hielt die Zügel locker in seinen Händen und gab seinem vertrauten Chocobo mit einem Schnalzer und einem leichten Stupser seines Stiefels das Kommando, loszulaufen. Er steuerte einen Hain am Ufer des Dümpelschuppensees an. Angst hatte er keine: Haurchefant hatte ihn den ein oder anderen Trick im Umgang mit dem Schwert gelehrt, und Francel war ein einfühlsamer Reiter, der die anderen Chocobo-Führer des Anwesens bald in den Schatten gestellt hatte.Da sah er, wie ein Schwarm wilder Vögel aus dem Hain aufstieg.
„Da muss was sein! Los!“
Francels Blick war scharf, doch seine Gutmütigkeit ließ ihn oft blind sein für die Durchtriebenheit anderer. Was in dem Hain auf ihn wartete, war kein Beutetier - es war eine Erpresserbande, die es auf Lösegeld für einen adligen Sprössling abgesehen hatte.
Als Francel den Hain erreichte, ging alles ganz schnell. Die drei Männer umzingelten ihn so schnell, dass an Flucht nicht zu denken war, und bevor er seine Klinge ziehen konnte, traf ihn schon ein Schlag am Hinterkopf und er verlor das Bewusstsein.
Als Francel zu sich kam, fand er sich in einer kleinen Berghütte wieder, wie Jäger oder Holzfäller sie benutzen. Seine Hände waren mit einem groben Seil gefesselt und sein Mund geknebelt. Einer der Banditen, die ihn überfallen hatten, saß an dem kleinen Ofen und drehte sich zu ihm hin.
„Bist du endlich wach? Verhalt dich schön still, hörst du?“
Die Drohung in der Stimme des Banditen war nicht zu überhören. Francel, gerade elf Jahre jung, sagte sich immer wieder, dass die Ritter seines Vaters bald kommen und ihn befreien würden, aber trotzdem zitterte er vor Angst. Doch da - auf einmal flog die Tür mit einem lauten Krachen auf und jemand stürmte herein.
„Was zum Henker ...?“
Sein Peiniger drehte sich überrascht um und sah, wie einer seiner Komplizen mit aufgeschlitztem Bauch durch die Tür hereinfiel, gefolgt von einem silberhaarigen Jüngling, das bluttriefende Kurzschwert eines Jägers fest in seinen Händen.
„Das wirst du büßen!“
Der Bandit stürzte sich auf Haurchefant, der den hastigen Angriff behände abwehrte und in einer entschlossenen Bewegung dem Angreifer das Kurzschwert in die Flanke stieß. So schnell wie der Kampf begann, endete er – zwei der Erpresser lagen regungslos am Boden, auf dem sich eine dunkle Blutlache bildete.
„Francel, alles ist gut!“
Haurchefant schnitt seinem Freund die Fesseln auf, und sobald er ihm den Knebel abnahm, rief Francel:
„Da ist noch einer! Pass auf!“
Doch die Warnung kam zu spät. Haurchefant fuhr herum und sah den dritten Banditen in der Tür stehen. Seine Augen waren weit aufgerissen vor Entsetzen und Raserei, und in den bebenden Händen hielt er einen vollständig gespannten Bogen, den Pfeil auf Francel gerichtet.
„Das ist alles deine Schuld, du Wicht ... Zu den Sieben Höllen mit dir und dem Lösegeld!“
Für Francel schien die Zeit stehen zu bleiben, als er sah, wie der Bandit seine Finger öffnete, die Sehne nach vorne schnellte und der Pfeil direkt auf ihn zuflog.
„Hilfe!“
Er kniff seine Augen vor Angst fest zu, aber als er sie vorsichtig öffnete, war alles schon vorbei.
„Ich sag doch, alles ist gut.“
Auch der dritte Bandit lag am Boden, und sein Blut sickerte unter seinem leblosen Körper hervor. Der Pfeil - steckte in Haurchefants linkem Arm. Er hatte ihn durchbohrt, die Spitze ragte auf der anderen Seite heraus, aber lebenswichtige Arterien hatte er offenbar verfehlt.
„Ich sollte mir einen Schild zulegen.“
Haurchefant hatte also den Pfeil, der für Francel bestimmt war, mit seinem Arm abgefangen, und war ohne zu zögern zum tödlichen Gegenangriff übergegangen. Francel war überwältigt von der Entschlossenheit und Opferbereitschaft seines Freundes, und dicke Tränen quollen aus seinen Augen.
So nahm die Entführung des vierten Sohnes des Hauses Haillenarte ein gutes Ende. Haurchefant, eben noch ein ungestümer Heranwachsender, wurde für die Rettung Francels in den Ritterstand erhoben und, in Anspielung auf seine ungewöhnliche Haarfarbe, mit dem Beinamen „Silberklinge“ versehen. Sein Traum hatte sich erfüllt.
Du weißt, warum. Haurchefant blickte auf seinen Freund Francel, der gekommen war, um ihm die letzte Ehre zu erweisen und Abschied zu nehmen, flüsterte einen Segen und antwortete, unhörbar für Francel, mit einem Lächeln:
Weil ein Ritter für das Leben anderer einstehen muss. Was für ein Ritter wäre ich denn, wenn ich nicht zur Stelle gewesen wäre?
Der zweite Schwur
Sultana Nanamo erfuhr drei Tage nach ihrem Erwachen aus dem Koma, was geschehen war. Papashan, der Nanamo, seit sie ein Kind war, beschützt hatte und ihr auch nach seinem Rücktritt aus der Palastwache treu ergeben blieb, hatte sie über die Ereignisse aufgeklärt.
Sein Bericht schockierte sie zutiefst. Als sie von Raubahns Verlust seines linken Arms und von dem Unrecht hörte, das dem Bund der Morgenröte widerfahren war, erfasste sie eine solche Wut auf Lolorito, dass sie ihn am liebsten auf der Stelle bestraft hätte. Doch Papashan schüttelte den Kopf.
„Zuerst sollten wir uns anhören, was Lolorito zu sagen hat, um seine wahren Absichten zu erfahren. Voreiliges Handeln hat noch nie gute Ergebnisse gezeitigt.“
Am nächsten Tag bestellte die Sultana drei Personen in die Weihrauchkammer: Den Hauptangeklagten Lolorito, Phönixgeneral Raubahn und Dewlala, die Hohepriesterin des Ordens von Nald'thal. Alle drei stellten wichtige Persönlichkeiten des Scorpio-Kreises dar, doch ihre politischen Ansichten konnten nicht unterschiedlicher sein. Lolorito war Republikaner, Raubahn überzeugter Royalist und die Hohepriesterin vertrat einen neutralen Standpunkt und gehörte weder dem einen noch dem anderen Lager an.
Lolorito nahm kein Blatt vor den Mund.
„Gehe ich richtig in der Annahme, dass ich hier bin, um mich zu verteidigen?“, fragte er dreist.
„Wenn du etwas zu sagen hast, dann sprich“, erwiderte Nanamo nach einer kurzen Pause und versuchte, ruhig zu klingen. Lolorito holte einmal tief Luft.
„Nun denn“, murmelte er und legte seine Gesichtsmaske ab.
Allein die Tatsache, dass Lolorito mit Gesichtsmaske zu einer Audienz erschienen war, zeugte von mangelndem Respekt der Sultana gegenüber. Doch der mächtige Lolorito, der sich nicht gerne in die Karten blicken ließ, hatte stets das starke Sonnenlicht vorgeschoben, das seine Augen schädigen würde, um verschleiert zu bleiben. Doch nun hatte er die Maske entfernt und sein Gesicht war enthüllt.
„Verzeiht mir meine Unverblümtheit, Eure Hoheit, aber Ihr habt die Gefahr maßlos unterschätzt, in der sich Ul’dah befindet.“
Der listige Händler sah die Sultana mit seinen goldenen Augen unverwandt an.
Dieser Lolorito! Von wegen hier sein, um sich zu verteidigen! Nach allem, was er getan hatte, wagte er es auch noch, die Sultana zu kritisieren! Raubahn runzelte die Stirn, doch er hielt es für klüger, an dieser Stelle nichts zu sagen, und senkte bloß den Kopf. Nanamo, die ihn von der Seite aus beobachtet hatte, drängte nun darauf, dass Lolorito weitersprach. Er sollte vortragen, was er vorzutragen hatte, und dann würde sie ihr Urteil treffen. Papashan hatte recht. Mit voreiligem Handeln war niemandem geholfen. Es war schon genug Schaden entstanden.
Gemäß Lolorito hatte sich alles wie folgt zugetragen.
Aus den Trümmern der Siebten Katastrophe war das neue Eorzea entstanden, doch war es bloß eine Frage der Zeit, bis die Truppen des Garleischen Kaiserreichs erneut ins Land einfallen würden. In einer solchen Zeit der Instabilität das Regierungssystem ändern zu wollen, konnte man nur als fahrlässig bezeichnen und musste um jeden Preis verhindert werden! Also leitete der reiche Händler Teledji Adeledji die Ermordung der Sultana in die Wege.
Lolorito nutzte das Komplott, um seine eigenen Ziele zu erreichen. Er ließ das Gift gegen ein starkes Schlafmittel austauschen, das die Sultana in ein künstliches Koma versetzte. Auf diese Weise konnte er einen Wechsel des politischen Systems verhindern und gleichzeitig Teledji Adeledji aus dem Weg räumen, den Raubahn in seiner Wut erschlug.
Bis hierher stimmte Loloritos Bericht mit dem von Papashan überein.
„Solche extremen Maßnahmen waren bloß notwendig gewesen, weil Ihr eine so wichtige Entscheidung wie die Abschaffung des Sultanats alleine getroffen habt, ohne Euch vorher mit den Mitgliedern des Scorpio-Kreises zu beraten. Wenigstens Euren treuen Untergebenen Raubahn hättet ihr einweihen können.“
Loloritos Worte trafen Nanamo mitten ins Herz. Sie hatte Raubahn gerade deshalb nicht ins Vertrauen gezogen, weil sie wusste, dass er imstande gewesen wäre, ihr ihr Vorhaben auszureden. Doch die Umwandlung des Sultanats in eine Herrschaft des Volkes war nicht zuletzt auch deshalb nötig, um das Flüchtlingsproblem zu lösen, das immer größere Ausmaße annahm. Die Stimme des Volkes musste erhört werden! Da Raubahn, der unbesiegbare Held des Kolosseums, beim Volk äußerst beliebt war, durfte man hoffen, dass er auch im neuen Regierungssystem eine tragende Rolle spielen würde. Natürlich barg ein Systemwechsel auch Gefahren. Reiche Händler wie Lolorito würden versuchen, sich Einfluss zu erkaufen. Doch letztendlich würde ein florierender Handel dem ganzen Volk zugutekommen. Daran hatte Nanamo fest geglaubt, als sie ihren Entschluss getroffen hatte.
Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Ihr unüberlegtes Handeln hatte dazu geführt, dass sich im Volk Unruhe ausgebreitet hatte. Raubahn hatte seinen linken Arm verloren und der Bund der Morgenröte, dem sie so viel verdankte, stand vor den Trümmern seiner Existenz. So sehr sie ihren Entschluss auch bereute, die Dinge ließen sich nicht mehr rückgängig machen.
„Auch mein Plan war nicht fehlerlos. Ich hätte die Mitglieder des Bundes der Morgenröte nicht entkommen lassen sollen. Wie hätte ich denn ahnen sollen, dass sie es im Palast der Sultana auf einen Kampf ankommen lassen würden ... Das hat die Lage unnötig verkompliziert“, fuhr Lolorito mit tonloser Stimme fort.
Laut Lolorito war es Teledjis Idee gewesen, das Attentat auf die Sultana dem Krieger des Lichts und seinen Gefährten in die Schuhe zu schieben, um dem Bund der Morgenröte den endgültigen Todesstoß zu versetzen. Lolorito sah darin Teledjis Rache für die Vereitelung seiner Pläne, sich der Omega-Waffe zu bemächtigen. Er selbst hätte keinerlei Groll gegenüber dem Bund der Morgenröte gehegt, doch sollte Teledji keinen Verdacht schöpfen, dass er wusste, dass Teledji hinter dem Attentat steckte. Deswegen musste er die Mitglieder des Bundes der Morgenröte, als man sie des Mordes beschuldigte, verhaften lassen. Er konnte sie ja wieder frei lassen, wenn alles vorbei war und sich der Verdacht als falsch erwiesen hatte.
Nanamo schluckte die wütende Erwiderung herunter, die ihr auf der Zunge lag. Der Bund der Morgenröte war in dieser ganzen Angelegenheit eindeutig ein Opfer – das Opfer einer politischen Intrige! Und dennoch klang es bei Lolorito so, als ob die Verhaftung eine unvermeidliche Maßnahme dargestellt hätte.
„Und dann wäre da noch Ilberds eigenmächtiges Handeln ... Dass ich mit Ilberd bezüglich Raubahn unterschiedlicher Ansicht war, habe ich Euch ja bereits erzählt.“
In der Tat war Nanamo darüber im Bilde. Doch warum hatte sich Ilbert in diesem Punkt dem Willen seines Auftraggebers widersetzt und auf der Beseitigung Raubahns beharrt?
Auch auf diese Frage hielt Lolorito eine Antwort bereit.Lolorito hatte Ilberd Geld und Waffen zur Verfügung gestellt, damit dieser die Flüchtlinge aus Ala Mhigo organisierte. Eine Befreiungsarmee sollte aufgebaut und nach Ala Mhigo gesandt werden. Auf diese Weise konnte man die Zahl der Flüchtlinge in Ul’dah reduzieren und gleichzeitig fungierte die Befreiungsarmee als Puffer gegen die Truppen des Garleischen Kaiserreichs. Zwei Fliegen mit einer Klappe also.
Doch Raubahn entwickelte sich mehr und mehr zu einem Problem. Er, der sich bis in den erlauchten Scorpio-Kreis hochgearbeitet hatte, verkörperte für viele Flüchtlinge aus Ala Mhigo den wahr gewordenen Traum vom Erfolg. Statt sich die Befreiung von der Herrschaft der Garlear und eine Rückkehr in ihre Heimat zu wünschen, träumten sie davon, wie Raubahn den Durchbruch in Ul’dah zu schaffen.
„In Raubahns Tod sah Ilberd das einzige Mittel, um das Volk von Ala Mhigo aus seinem törichten Traum zu reißen. Ich sah das anders. Raubahn durfte nicht sterben, weil nur er Eure Hoheit dazu bringen konnte, weiterhin auf dem Thron zu bleiben“
In diesem Punkt muss ich Lolorito Recht geben, dachte Nanamo. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn Raubahn ermordet worden wäre. Vielleicht hätte ich aus Verzweiflung doch noch die Abschaffung des Sultanats verkündet. Auf jeden Fall wäre ich nicht mehr fähig gewesen, klar zu denken.
Lolorito, der die ganze Zeit ohne einen Anflug von Reue gesprochen hatte, streckte nun der Sultana eine Pergamentrolle entgegen.
„Bitte, Eure Hoheit, das gehört Euch.“
Auf dem Pergament stand, dass das gesamte Vermögen von Teledji Adeledji, das Lolorito verwaltete, sowie die Hälfte von Loloritos eigenem Vermögen dem Sultanat übergeben werden soll.
„Du denkst wohl, mit Geld lässt sich alles wiedergutmachen!“, platzte es aus Raubahn heraus.
Er machte Anstalten, aufzustehen, doch Nanamo hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.
„Wir Händler begleichen unsere Schuld eben mit Geld ... Ob Ihr es dem Bund der Morgenröte als Wiedergutmachung zukommen lassen wollt oder es für die Lösung des Flüchtlingsproblems verwendet, sei Euch überlassen. Ich rate Euch allerdings, mit den Maßnahmen gegen eine mögliche garleische Invasion nicht länger zu warten. Die Beseitigung dieser Bedrohung duldet keinen weiteren Aufschub und wird bestimmt nicht billig werden ... Und jetzt entschuldigt mich bitte.“
Lolorito setzte seine Gesichtsmaske wieder auf und verließ den Raum raschen Schrittes – ohne abzuwarten, dass ihm die Sultana die Erlaubnis dazu erteilte.
Nachdem Nanamo in ihre Privatgemächer zurückgekehrt war, musste sie noch lange über Loloritos Worte nachdenken. Es gab keine Entschuldigung für das, was er getan hatte. Aber sie konnte, nach allem, was geschehen war, die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass ihre Vorgehensweise nicht genug durchdacht gewesen war. All die Verwirrung und die Opfer wären nicht notwendig gewesen ohne ihr unbesonnenes Handeln. Wie konnte sie das bloß wiedergutmachen?
Lolorito hatte die Hälfte seines Vermögens angeboten, eine große Geste für jemanden, dem Geld das Wichtigste im Leben war. Doch was konnte sie selbst anbieten, die noch immer auf dem Thron saß?
„Führe Raubahn zu mir!“, befahl Nanamo.
Wenig später führte die neue Kammerzofe Raubahn herein und Nanamo überreichte ihm die Pergamentrolle. Als Raubahn Nanamos Unterschrift am Ende des Schriftstücks entdeckte, runzelte er die Stirn, doch Nanamo ließ ihn nicht zu Wort kommen.
„Ich verabscheue Lolorito!“
„W-Was?“
„... Aber noch mehr verabscheue ich mich selbst und meine Dummheit! Ich hätte mir den Rat des Scorpio-Kreises einholen sollen, doch nicht einmal dich, dem ich mehr als irgendjemand anderem vertraue, habe ich in meine Pläne eingeweiht.“
Raubahn wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, und verharrte mit gesenktem Kopf.
„Lolorito ist ein grausamer, machtgieriger Tyrann. Aber er ist auch ein tüchtiger Händler und für den Schutz von Ul’dah würde er alles tun.“
Nanamo kämpfte mit einem Sturm gemischter Gefühle. Aber ihr Entschluss stand fest. Raubahn blickte die Sultana liebevoll an. Er empfand beinahe wie ein Vater für sie.
Da drehte sich Nanamo zu ihm um und sagte mit fester Stimme: „Rufe sofort die höchsten Beamten zusammen! Wir müssen uns eine Strategie überlegen, wie wir Ishgard dazu bewegen können, der Eorzäischen Allianz beizutreten. Und wir müssen uns Schutzmaßnahmen gegen die Garlear überlegen.“
Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Der Tag wird kommen, an dem ich in der Lage sein werde, Ul’dah souverän zu führen, ohne dass mir so jemand wie Lolorito auf der Nase herumtanzt! Das schwöre ich.“
Und so legte Nanamo zum zweiten Mal einen Schwur ab. Der erste, den sie schwören musste, als sie den Thron bestiegen hatte, zählte nicht. Sie war damals erst fünf Jahre alt gewesen und hatte die Bedeutung des Eides nicht verstanden.
„Ha ha ha!“
Raubahn brach in erleichtertes Lachen aus. Das war die Sultana, die er kannte!
Auch Nanamos Mund umspielte ein Lächeln. Erstmals seit langem wieder.