Der Lodestone

Erzählungen im Morgenrot

Umwege, die das Leben nimmt

Als Krieger des LichtsAls Krieger des LichtsAls Krieger des LichtsAls Kriegerin des LichtsAls Kriegerin des LichtsAls Kriegerin des Lichts

„Ach, Azem. Wo hast du nur deinen Kopf?“

Als Hythlodaeus in sein Büro zurückkehrte, fand er einen Kristall auf dem Besucherstuhl und konnte seine Verwunderung darüber nicht verbergen. Der handtellergroße, in klarem Blau erstrahlende Kristall gehörte eindeutig seinem Freund, der heute Morgen schon früh erschienen war. In ihm war Azems Arbeit enthalten, die „Schöpfungskonzepte zur Vereinfachung des Reisens, Teil 14“, und er hatte sich Ratschläge des Architekten bezüglich einer geeigneten Struktur seiner Kreationen erhofft.

Doch die Erzählungen seiner Reise waren so gefragt, dass Azem zur Tagung des Konvents der Vierzehn gerufen wurde, bevor Hythlodaeus sich mit der Sache im Detail befassen konnte. Er hatte das Büro des Architekten verlassen, da heute die Begutachtung eines Geschöpfes der allerhöchsten Größenklasse auf dem Plan stand, und war gerade zurückgekehrt.

„Wenn du deine Reisen vereinfachen möchtest, solltest du vielleicht damit anfangen, deine Dinge nicht so achtlos liegen zu lassen.“

Hythlodaeus lachte in sich hinein und hob den Kristall auf. Er drehte sich um, sah zunächst aus dem Fenster zum Kapitol herüber, wo der Konvent der Vierzehn gerade tagte, und verlagerte dann seinen Fokus, um in den Äther zu blicken. Den Äther vermag jeder zu spüren, und mit etwas Erfahrung kann man auch seinen Fluss sehen. Doch niemand war in der Lage, so detailliert im Äther zu lesen wie Hythlodaeus – mit Ausnahme von Emet-Selch.

Sofort nahm er die für Azem typische Färbung im Äther wahr. Aufgrund der Entfernung war es schwierig, den genauen Standort seines Freundes zu bestimmen, aber es bestand kein Zweifel, dass er sich auf dem Gelände des Kapitols befand.

Hythlodaeus richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die materielle Welt. Draußen vor dem Fenster wurde das Stadtbild Amaurots von der untergehenden Sonne beleuchtet. Die Tagung sollte bald zu Ende sein – ein guter Zeitpunkt, um das Fundstück zurückzugeben.

Hythlodaeus verließ schnellen Schrittes sein Büro und verabschiedete sich an der Rezeption des Gebäudes knapp von dem ernsten Generalsekretär. Dieser machte Anstalten, ihn aufzuhalten, doch Hythlodaeus tat einfach so, als würde er ihn nicht hören. Er öffnete die hohe Eingangstür und vor ihm erstreckte sich die Stadt mit ihren prächtigen Straßen und erhabenen Türmen, vom Glanz der Sonne verwöhnt und von zarten Winden umschmeichelt.

Hythlodaeus war gerade den sanften Hang hinaufgestiegen und hatte das Kapitol erreicht, als zwei ihm wohlbekannte Gestalten herauskamen, sich fröhlich unterhaltend. Keiner würde besser wissen, wie es drinnen um die Versammlung stand.

„Ich grüße euch, Mitron und Loghrif. Ist die Tagung beendet?“

„Ah, du bist es. Ja, sie wurde soeben beendet. Deine beiden Freunde sollten sich noch im Kapitol befinden“, antwortete Mitron.

Hythlodaeus hatte Zugang zum Kapitol und brauchte seinen Besuch nicht zu rechtfertigen, erklärte sich aber dennoch. „Ich suche nach Azem. Er hat etwas bei mir vergessen“, sagte er, was Mitron zum Lachen brachte. Sie hob gleichgültig die Schultern und machte sich wieder auf den Weg in Richtung Stadt. Loghrif winkte Hythlodaeus zum Abschied zu und folgte ihr.

„Mitron, wohin gehen wir?“

„Ich habe es dir doch vorhin gesagt ... Dein Gedächtnis ist wirklich wie ein Sieb.“

Die Stimmen verklangen, während sich die beiden entfernten. Sie verbrachten viele Stunden ihrer Freizeit zusammen, und so war es auch heute. Mitron schuf Geschöpfe des Meeres, während Loghrif solche des Landes entwarf. Ihre Arbeitsbereiche lagen nah beieinander, doch überschnitten sie sich beinahe nie. Hythlodaeus drehte sich um und betrat die Halle des Kapitols.

Das große Foyer lag vor ihm, schön und makellos wie eh und je. Weiter hinten sah er zwei Personen, die in ein ernstes Gespräch vertieft waren. Wie es Sitte bei Tagungen des Konvents war, auf denen wichtige Entscheidungen getroffen wurden, hatten sie ihre Kapuzen zurückgeworfen und ihre Masken abgenommen. Die Sitzung war zwar schon zu Ende, doch die beiden tauschten weiterhin Argumente aus, ohne ihre Gesichter wieder verhüllt zu haben. Sie hatten ohnehin keinen Grund, ihr Antlitz voreinander zu verbergen. Schließlich waren sie vom gleichen Blute.

Um Lahabrea und Igeyorhm nicht zu stören, schritt Hythlodaeus so leise wie möglich durch die ihm nächstgelegene Tür. Dahinter befand sich ein Flur, so ruhig, dass man seinen eigenen Herzschlag hörte. Hythlodaeus konzentrierte sich auf die Ätherströme und nahm Azems Ätherfarbe wieder wahr, diesmal aber viel näher. Er musste im Atrium sein. Da bemerkte Hythlodaeus in der Nähe eine weitere ihm vertraute Farbe und beschloss, einen kleinen Umweg zu machen. Schließlich hatte er es nicht eilig. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er gemächlich den Flur entlangschritt.

Er kam an eine Tür, die zum Plenarsaal führte. Plötzlich öffnete sie sich mit einem dumpfen Geräusch und ein junger Mann erschien. An der Brust seines weißen Gewandes prangte eine rote Maske.

„Ich grüße dich, Elidibus.“

„Ah, Hythlodaeus! Azem und Emet-Selch sind gerade eben gegangen.“

Anscheinend war es nicht nur Mitron, die geahnt hatte, warum Hythlodaeus im Kapitol erschienen war. Aber wenn Azem und Emet-Selch das Büro des Architekten aufsuchten, wäre es nicht anders. Jeder Mitarbeiter würde sie ohne zu zögern an Hythlodaeus verweisen. Nur Neulinge – oder der gewissenhafte Generalsekretär – würden nach dem Grund des Besuchs fragen. Hythlodaeus teilte Elidibus mit, dass er bereits wisse, wo sich die beiden befänden, und nutzte die Gelegenheit, nach der eben beobachteten Szene zu fragen.

„Gab es heute etwas besonders Schwieriges zu besprechen? Lahabrea und Igeyorhm scheinen noch lebhaft zu diskutieren.“

„Nein, nein. Das Problem selbst ist gelöst. Lahabrea aber schien in Gedanken versunken und abwesend. Deswegen hat sich Igeyorhm Sorgen gemacht.“

„Ich verstehe. Dann war es also weniger eine Debatte als vielmehr eine Predigt. Doch Lahabrea lässt sich nicht so leicht von einer Tagung ablenken. Es bedarf dazu schon einer Sache von Gewicht.“

Elidibus schien durcheinander, was man ihm für gewöhnlich nicht ansehen würde. Es musste sich um etwas handeln, das selbst für jemanden mit seinem Intellekt nicht leicht zu durchschauen war. Er dachte eine Weile nach, bevor er murmelte: „Es handelt sich in der Tat um eine nicht unbeträchtliche Gefahr ... Und es gab ein paar Dinge, die nicht einmal ich verstanden habe.“ Dann, als würden die Dinge auf einmal einen Sinn ergeben, blickte Elidibus erleichtert auf.

„Doch wir haben auch viel dadurch gewonnen. Ich habe sogar eine neue Freundschaft geschlossen. Und ich habe einen Stern gesehen ... ein Komet, geheimnisvoll und schillernd, der unvermittelt vom Himmel fiel und uns leitete.“

„Das klingt nach einer ebenso wundersamen wie einzigartigen Erfahrung.“

„Ja. Die Erinnerung wird mich für immer begleiten.“

Mehr hatte Elidibus nicht zu sagen. Er verabschiedete sich und zog Kapuze und Maske auf. Als er zum Ausgang schritt, war er wieder ganz der würdevolle Fürsprecher.

Hythlodaeus ging weiter und erreichte eine Abzweigung des Ganges. Kurz bevor er um die Ecke gehen konnte, sprang jedoch ein schwarzes Etwas hervor. Er wich reflexartig zurück, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Das Etwas blickte Hythlodaeus mit seinen jadefarbenen, vor Überraschung geweiteten Augen an.

„Oh, Verzeihung! Ich habe nicht aufgepasst.“

Es war der Mann, der kürzlich das Amt des Fandaniel eingenommen hatte. Für Hythlodaeus war er immer noch Hermes, denn dies war der Name, den er an seinem früheren Arbeitsplatz trug. Auch er hatte sein Antlitz nach der Tagung noch nicht wieder mit seiner Maske verhüllt. Tiefe Furchen durchzogen sein Gesicht, die ihn beinah leblos erscheinen ließen.

„Schon gut, es ist ja nichts passiert. Aber was ist mit dir? Du siehst abgemagert aus. Sag, was treibt dich so?“

„Ach, nichts weiter. Da ist bloß etwas, das ich unbedingt in Erfahrung bringen muss.“

So ausweichend die Antwort auch war, Hermes' Blick sprach Bände. Er vergrub sich in seiner Arbeit, genau wie Emet-Selch gesagt hatte. Ein solches Verhalten war nicht weiter ungewöhnlich für ihn, aber diesmal war es länger und intensiver als sonst. Obwohl das vielleicht zu erwarten war ... Hythlodaeus und Emet-Selch waren nach Elpis geschickt worden, um die Eignung des damaligen Leiters für einen Sitz im Konvent zu beurteilen. Doch während ihres Besuchs ereignete sich ein höchst ungewöhnlicher Zwischenfall. Scheinbar ohne Vorwarnung war eine Schar Familiare, in die Hermes jahrelange Arbeit gesteckt hatte, instabil geworden und hatte sich spontan aufgelöst. In der Folge stellten Hythlodaeus und Emet-Selch fest, dass sie sich an die Zeit nach ihrer Ankunft in Elpis nicht erinnern konnten, während Hermes nur bruchstückhafte Erinnerungen besaß, aus denen er die Umstände des Vorfalls zusammensetzte. Die Sache wurde bald zu einem Thema für amüsante Anekdoten unter den Mitarbeitern, aber nicht für Hermes. „Ich habe sie umgebracht“, klagte er – ein Vorwurf, den Hythlodaeus angesichts des Verlusts eines Familiars noch nie gehört hatte – und als hätte man ihm die Flügel genommen, die er seinen Konzepten so oft verliehen hatte, konnte er sich nie wieder dazu durchringen, eine weitere fliegende Kreation zu schaffen. Seit Hermes seine Pflichten als Fandaniel übernommen hatte, verbrachte er jede wache Minute mit der Beobachtung und Erforschung der materiellen Welt.

„Du kannst arbeiten, so viel du willst. Aber willst du nicht wenigstens einmal innehalten, um etwas Nahrung zu dir zu nehmen? Soll ich etwas bringen lassen? Etwas Obst vielleicht?“

„Obst ...?“

Hermes wiederholte das Gehörte ratlos, und seine Augen schossen hin und her, als ob er nach etwas suchte.

„Ich ... Ich weiß nicht ...“

„Ich sehe schon. Du bist wirklich übermüdet. Aber ehrlich gesagt habe ich auch keine besonderen Vorlieben, was das Essen angeht. So richtig gut schmeckt es mir nur in guter Gesellschaft!“

Als er das hörte, lockerte sich Hermes' besorgter Gesichtsausdruck. Hythlodaeus wusste die Gelegenheit für eine Frage zu nutzen.

„Warum arbeitest du so verbissen? Ich kann mir keine Aufgabe vorstellen, die jemandem von deinem Talent so viel Mühe abverlangen könnte.“

Hermes schwieg und suchte – auch diesmal tief in sich gekehrt – nach einer Antwort. Es war, als ob ein dunkler Ozean in seinem Inneren wogte. Als er wieder auftauchte, antwortete er leise, aber entschlossen:

„Weil ich keine andere Wahl habe, also voranzuschreiten.“

„Hm? Was meinst du damit?“

„Ich kann es nicht gut erklären, aber ... Ich weiß zwar nicht, was uns erwartet oder was aus uns werden wird ... aber wir leben. Wir sind hier und leben, und ... und deshalb weiß ich, fühle ich, dass wir weitergehen müssen, Schritt für Schritt ...“

Hermes faselte. Seine Worte drehten sich um sich selbst, während sie im dunklen Ozean versanken. Er selbst verstand nicht ein einziges Wort von dem, was er sagte. Sein Amt des Fandaniel, der die materielle Welt betrachtete, sollte das Leben begleiten, und stand so im Gegensatz zu dem Amt des Emet-Selch, der über die Unterwelt wachte. War es das, worum es ihm ging? Hermes rang weiter mit seinen schiffbrüchigen Gedanken, kam dann mit einem Mal zur Besinnung und entschuldigte sich: „Es tut mir leid.

Ich werde mich auf mein Zimmer zurückziehen und mich ausruhen. Danke für deine Fürsorge, Hythlodaeus.“

„Ja, das ist bestimmt das Beste. Emet-Selch fürchtete schon, dich bald in der Unterwelt begrüßen zu müssen.“

Hermes entwich ein scheues Lächeln, dann verabschiedete er sich und ging. Hythlodaeus sah, wie Hermes sich unsicheren Schrittes durch den Flur bewegte. Mehrmals stützte er sich an der Wand und begab sich so außer Sichtweite.

Hythlodaeus setzte seinen Weg langsam fort, bis er am Ende des Gangs stand. Sein Ziel, das Atrium, lag direkt vor ihm. Er warf erneut einen Blick in die Ätherströme, um sich etwas zu vergewissern. Dann entfuhr ihm ein Laut, denn er spürte gerade noch, wie Azems Äther sich in den Himmel hob.

Schnell schritt er in das Atrium. Hier fand sich ein kleiner, gepflegter Garten, ähnlich der Anagnorisis. Es war von Korridoren umgeben und nach oben hin offen. Ja, hier könnte man auf sein Familiar aufsteigen und davonfliegen. Azem war nirgends zu sehen und die andere Ätherfarbe, die Hythlodaeus in der Nähe wahrnahm, stand einfach da.

Es war Emet-Selch, die Augen immer noch gen Himmel gerichtet. Seine Brauen, sonst zornig gekräuselt, hatten einen sanften Schwung angenommen, und seine Mundwinkel schafften es, sich zu dem Anflug eines Lächelns anzuheben. Er sah stolz aus.

„So ausgeglichen sieht man dich nur, wenn du Azem verabschiedest.“

So angesprochen drehte sich Emet-Selch um und seine Gesichtszüge nahmen schneller, als man mit den Wimpern zucken konnte, wieder ihren gewohnten, halb gereizten, halb angewiderten Zustand ein. Wie flüchtig ein Lächeln sein kann, dachte Hythlodaeus.

„So ist es doch. Wann sieht man dich schon mal lächeln, ohne dabei ein verächtliches Schnauben zu hören?“

„Ach. Bist du also den ganzen weiten Weg gekommen, nur um einen Streit anzuzetteln?“

Die Falten zwischen Emet-Selchs Augenbrauen wurden dunkler und tiefer. Hythlodaeus stellte sich neben ihn und sah in den Himmel. Azems Gestalt war gerade noch als Punkt auszumachen, bevor sie in der Ferne verschwand. Hythlodaeus sah Emet-Selch von der Seite an.

„Ich mache mich nicht über dich lustig. Mir gefällt dein Lächeln.“

„Spar dir das. Mir war einfach nur danach, meiner Zunge freien Lauf zu lassen. Unserem Freund habe ich auch eine Stichelei mit auf den Weg gegeben. ‚Dann versuche es doch, wenn du glaubst, dass du es kannst‘, habe ich gesagt. Er ist mit einem höchst ungewöhnlichen Auftrag aufgebrochen, da können ein paar provozierende Worte manchmal Wunder bewirken.“

„Und?“

Emet-Selch warf Hythlodaeus einen verächtlichen Blick zu, den dieser einfach an sich abprallen ließ, denn er war die Launen seines Freundes schließlich gewohnt. Die beiden hatten die gleiche Gabe und waren seit ihrer Kindheit beste Freunde.
Außerdem wusste Hythlodaeus, dass Emet-Selch ihm die Bemerkung nicht wirklich übelgenommen hatte. Ansonsten hätte er sich einen abfälligen Kommentar bestimmt nicht verkneifen können. Die Bestätigung folgte auf dem Fuße.

„Ich habe keinen Zweifel daran, dass er alle Widrigkeiten, die ihm auf seinem Weg begegnen, überwinden kann. Wenn ich an die Zukunft denke, habe ich also allen Grund, meinen Lippen ein Lächeln zu gestatten.“

Hythlodaeus lachte lauthals los. Er konnte einfach nicht anders, sein Freund hatte den Nagel derart auf den Kopf getroffen. „Du sagst es“, presste er zwischen Atemzügen heraus. Emet-Selch seufzte auf – ob aus gespielter oder wirklicher Verzweiflung, war nicht zu erkennen. Und sowohl das Seufzen als auch das folgende Genörgel, verschwanden wie Azem im blauen Himmel.


Dieser blaue Himmel existierte jetzt nicht mehr. Die apokalyptische Katastrophe der Letzten Tage hatte ihn in ein loderndes Flammenmeer verwandelt. Als Hythlodaeus jemanden seinen Namen rufen hörte, drehte er sich um. Es war Emet-Selch, völlig außer Atem.

„Hytholdaeus, bitte. Du ... Du musst leben. Du musst zurückbleiben und deine Pflichten als Architekt erfüllen ... um der Wiedergeburt des Planeten willen!“

„Das ist nicht nötig. Ich habe fähige Mitarbeiter. Solange ein paar von ihnen hierbleiben, sollten sie alle nötigen Arbeiten übernehmen können.“

Hythlodaeus tat so, als hätte er Emet-Selchs Flehen nicht gehört. Um dem Willen des Planeten Gestalt zu geben und die Letzten Tage abzuwenden, war ein Opfer von bisher ungekanntem Ausmaße nötig. Emet-Selch wusste, dass er seinem Freund das Recht, dem Aufruf des Konvents zu folgen, nicht absprechen konnte, und ballte frustriert seine Hände zu Fäusten.

Hythlodaeus war kein Kämpfer. Sich zu opfern war die pragmatischste Lösung. Er hatte keine Angst davor, in den Äther zurückzukehren und so die Schöpfungsmagie zu nähren. Vielmehr empfand er es als beruhigend, auf diese Weise unzählige Leben retten zu können.

Trotzdem regte sich ein Schmerz in seiner Brust, als er auf die hagere Gestalt seines Freundes blickte. Hythlodaeus wusste jedoch, dass die Ursache dafür nicht bei ihm selbst lag.

„Azem hat uns nicht im Stich gelassen. Er kämpft und sucht einen Weg, den er für den richtigen hält. So, wie er es immer tut.“

„Pah! Denkst du etwa, das weiß ich nicht? Aber wir haben keine Zeit mehr ... Es ist unsere Pflicht, diesen Planeten zu beschützen!“

Er spuckte diese Worte förmlich aus – er, der sich mehr als jeder andere eine Zukunft an Azems Seite wünschte. Er, dessen Wut und Schmerz deutlich in seinen flehenden Augen zu sehen war. Hythlodaeus konnte sich den Schmerz, den sein Freund empfand, nur schwer vorstellen. Und doch war er weiter der Emet-Selch, ernst, liebenswürdig und ein wahrer Freund, auf den er stolz war.

„Du hast recht, Emet-Selch. Deshalb lege ich all mein Vertrauen in den Plan des Konvents der Vierzehn.“

Die Zeit, Zodiark zu beschwören, war gekommen. Hythlodaeus entschuldigte sich, drehte sich um und machte sich auf den Weg. Während er davonschritt, rief er sich das Lächeln seines Freundes in Erinnerung, wohlwissend, dass er es nie wieder sehen würde.

So endete es.

So musste es sein.

Durch eine seltsame Wendung des Schicksals – oder eher die Hartnäckigkeit von Venat – wurden sie an den Rand des Universums gerufen: Emet-Selch, Hythlodaeus und Azem. Um endlich, nach so langer Zeit, vereint zu sein. Um der Endsängerin die Antwort auf ihre Frage zu geben. Um dem Wunsch nach Leben, der das Universum erfüllt, mit ihrer Schöpfungsmagie Gestalt zu verleihen. Nachdem Emet-Selch seine Rolle erfüllt hatte, hinterließ er zum Abschied eine Aufgabe: die Einladung zu einer Reise.

„Ich verspreche dir, es lohnt sich“, hatte er gesagt.

Und wie er lächelte, als die Zeit für den Abschied kam ... Als ob er stolz auf irgendetwas wäre. Als wolle er zu irgendetwas anstacheln. Voller Erwartungen. Und der Gewissheit, dass sie erfüllt werden. Es war das gleiche Lächeln, das er Azem schenkte, als er ihn verabschiedet hatte.

So endete die Zugabe. Die Darsteller verlassen die Bühne, um ihren Platz unter den Toten einzunehmen, und die Lebenden besteigen ihr aus Marmor gehauenes Schiff, auf dass sie an ihren vom Schicksal zugewiesenen Platz gelangen. Wir geben uns in die Obhut der sanften Strömungen, die uns nach Hause rufen – auf welchem Umweg auch immer.

Aus der Ferne schallten Jubelrufe über das glitzernde Wasser. „Kehret heim! Wie heißen euch willkommen!“ Die Chöre kündeten von Sieg und Heimkehr.

Neben Hythlodaeus schloss Emet-Selch die Augen und schien dem fernen Getose zu lauschen. Mit einem Lächeln nahm er Abschied von Vergangenheit und Zukunft. Zodiark war gerufen, doch damit hatte das Leid für ihn erst begonnen. Die Traurigkeit, der Schmerz, die Angst und die Einsamkeit, welche die Lebenden vor langer Zeit zum ersten Mal erfuhren, hatte er wieder und wieder durchleben müssen. Doch jetzt durfte er endlich für immer schlafen. Ich danke dir aus tiefstem Herzen.

Hythlodaeus blickte aufs Wasser hinaus. Dann schaute er noch einmal in das lächelnde Gesicht neben sich, woraufhin auch er seine Augen schloss.

Fühle es, Gestirn. Das Leben der Alten kehrt zurück. Wir waren du, und du warst wir. Nimm diese Körper, diese Seelen und diese Erinnerungen als Garn, und spinne daraus eine neue Geschichte, an neuen Ufern.

Mein Herz schlägt schneller, wenn ich an diesen Tag denke. Deines doch auch, oder? Hades.

Dann verblasste er im Kreislauf des Lebens. Doch die Träume, die er im Schwarz seiner geschlossenen Augen sah, strahlten hell.

Hintergrundgeschichten