Leichter Schnee fiel in Ishgard, als Erenville den Brief von einem Gildenkollegen entgegennahm. Er trug die Unterschrift von Krile Baldesion und bestand aus einer langen Liste von Forderungen.
Im Gegenzug für Erenvilles Hilfe bot Krile ihm Informationen an.
„Was zum Henker geht da vor sich?“, brummte der Klauber, während er sich die seltsame Begegnung mit Krile und ihren Freunden vor einigen Tagen in Erinnerung rief.
Noch unschlüssig, ob er auf den Vorschlag eingehen sollte, kehrte Erenville ins Haus zurück, als seine Kontaktperle klingelte. Es war ein Angestellter der Klaubergilde und seine Stimme überschlug sich beinahe vor Aufregung.
„Wir müssen evakuieren! Von diesem Planeten!“
Der Gildenangestellte gab hastig wieder, was der Rat der Philosophen gerade eben verkündet hatte.
Die Apokalypse, Hydaelyns Prophezeiung, die Flucht zum Mond – das alles klang äußerst unwirklich, aber gleichzeitig ergab auch alles auf einmal einen Sinn.
Bevor der Angestellte auflegte, forderte er Erenville auf, nach Sharlayan zurückzukehren, sobald es seine Pflichten zuließen.
Seither waren drei Tage vergangen.
Erenville hatte unterdessen alle gefangenen Tiere in ihren ursprünglichen Lebensraum zurückgebracht. Er selbst würde mittels Teleportationsmagie nach Sharlayan reisen. Kurz vor seiner Abreise erreichte ihn der verzweifelte Bericht eines Klauberkollegen aus Thavnair, dessen Schilderungen ihm die Haare zu Berge stehen ließen. Er durfte nun nicht mehr zögern. Eiligen Schrittes stapfte Erenville zu Baldesions Annex und begab sich schnurstracks zu Krile, die am hinteren Ende des Raums mit dem Empfangsangestellten in ein Gespräch vertieft war. Noch beim Gehen zog er den Brief aus der Manteltasche und sagte:
„Na gut. Ich werde mir anhören, was du zu berichten hast.“
Für einen kurzen Augenblick schien Krile erschrocken über den unerwarteten Besuch, doch sie fasste sich rasch und nickte ernst.
Was Erenville nun zu hören bekam, schien noch unglaublicher als die Verkündung des Großen Exodus. Er erfuhr von der ungeheuerlichen Wahrheit, die der Bund der Morgenröte ans Licht befördert hatte. Dass die Letzten Tage erneut über das Gestirn hereinzubrechen drohten. Dass man nach einem Weg suchte, auch jene zu retten, die sich nicht mit einer Flucht zum Mond in Sicherheit bringen konnten.
Erenville war stets bemüht, sich weiterzubilden. Als Klauber hatte er ein Spezialgebiet, auf dem er sich besonders gut auskannte, aber darüber hinaus musste er auch mit vielen anderen Dingen vertraut sein. Er musste wissen, welche Kulturen es gab und was in den verschiedenen Teilen der Welt vor sich ging – kurzum galt es, über alles im Bilde zu sein, was auf seinen Reisen nützlich sein könnte. So wusste Erenville, dass es eine Organisation gab, die Eorzeas Probleme zu lösen versuchte, und dass der Held Eorzeas ihr angehörte. Auch wenn er niemals geglaubt hätte, dass eben jener Held ihm eines Tages beim Fangen von Marmormäusen helfen oder gar in einem Froschkostüm hinterherspionieren würde.
Erenville hielt sich also für gut informiert, aber nun musste er erkennen, dass alles, was er wusste, nur die Spitze des Eisbergs gewesen war. Auf einmal sah er sich mit Wahrheiten konfrontiert, die sein Vorstellungsvermögen weit überschritten.
Es gab auf diesem Planeten noch so vieles zu entdecken. Das war keine neue Erkenntnis für Erenville, doch Krile hatte ihm vor Augen geführt, wie wenig er wusste. Er würde diesen Ort verlassen müssen, ohne ihn auch nur ansatzweise erforscht zu haben. Und das wurmte ihn gewaltig.
„Wie kann ich helfen?“
Die Worte kamen ihm automatisch über die Lippen.
Krile lächelte dankbar und antwortete: „Ich benötige die weitreichenden Kontakte von euch Klaubern.“
Allmählich nahm die Sache Gestalt an.
Die Klaubergilde beteiligte sich an der Aufgabe, das notwendige Personal für die Verbesserung des Ätherantriebs der Arche aufzutreiben. Am Hafen von Thaliaks Pforte stieß man auf Helfer, die dabei waren, allerlei Material zum Zentralzirkel zu transportieren. Der Bund der Morgenröte war aus den Tiefen des Sternengrunds zurückgekehrt und hatte das Einverständnis des Rates der Philosophen für ihre Mission ans Ende des Universums erhalten. Und nun war man dabei, das Raumschiff zu vollenden, das diese Reise ermöglichen sollte.
Das bedeutete, dass all die Proben, die man in die Arche verfrachtet hatte, wieder entladen werden mussten, um Platz für den Sprungantrieb zu schaffen. Die ausgeladene Ware wurde indessen von Angestellten des Labyrinthos, Freiwilligen des Ilsabard-Korps und den Klaubern von Thaumazein wieder zurück in die leeren Lager des Archeion transportiert.
Erenvilles Knochen ächzten, als er zum hundertsten Mal eine Kiste zum Fahrstuhl schleppte. Nachdem er sie abgesetzt hatte, streckte er seine Glieder.
„Ähm, hallo? Sag mal, weißt du zufällig, wo es hier zu Kokkols Schmiede geht? Ich soll diese ponzenschwere Kiste bei ihm abliefern ...“
Die Ishgarder Rüstung und der gelbe Kragen des Gewands, das der Sprecher darunter trug, verrieten ihn als Ritter des Hauses Fortemps. Und tatsächlich erkannte Erenville in dem Gesicht den jungen Adligen, der sich ständig mit diesem hitzköpfigen Piraten aus Limsa Lominsa in den Haaren gelegen hatte.
„Kokkols Schmiede? Die ist ... ach, weißt du was? Überlass die Kiste einfach mir. Das geht schneller ...“
„Oh, wenn du darauf bestehst ... Vielen Dank!“
Der Fortemps-Sprössling ließ sein bezauberndstes Lächeln erscheinen und drückte Erenville die Ware in die Hände. Er musste wohl wirklich recht erschöpft gewesen sein, denn sobald er die Kiste losgelassen hatte, massierte er sich laut ächzend die Hüften. Doch als Erenville ihn mit den Worten „Würdest du dich stattdessen jener Gepäckstücke dort annehmen?“ auf den Berg an Waren aufmerksam machte, setzte sich der junge Mann – wenn auch äußerst widerwillig – in Bewegung.
„Uff, wenn ich geahnt hätte, welche Plackerei mich hier erwartet, hätte ich die Drachen der Himmelsstadt gebeten, mich zu begleiten“, murmelte er.
Erenville spitzte unwillkürlich die Ohren. Hatte er da gerade das Wort „Drachen“ gehört? Jedes Kind wusste, dass Drachen äußerst kräftig, aber nicht besonders kontaktfreudig sind. Dem Klauber war zwar bekannt, dass sich das Verhältnis zu den geflügelten Wesen seit dem Ende des Drachenkriegs verbessert hatte, doch stand man nun etwa auf so gutem Fuß, dass sich die Drachen als Packesel einspannen ließen?
Einen Augenblick lang war Erenville geneigt, den Ritter darauf anzusprechen. Schließlich könnte ihm das Wissen über Drachen eines Tages bei einem Auftrag von Nutzen sein ... Doch der Moment verstrich und Erenville ging wortlos Richtung Kokkols Schmiede weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen. Diese Sache hier war wichtig. Wenn er sie in den Sand setzte, gab es keine Gelegenheit zur Wiedergutmachung. Besser, er ließ sich nicht auf jemanden ein, der derart ungeniert seine Arbeit auf einen anderen abwälzte. Da schien es klüger, sich auf seine Mission zu konzentrieren.
Als Erenville wenig später in der Schmiede ankam, waren die Arbeiten zur Verbesserung des Ätherantriebs in vollem Gange. Geschäftiges Treiben herrschte um das spinnenartige Gebäude, aus dem Kokkol Dankkols gebrüllte Befehle drangen.
Erenville machte einen Ingenieur in der Nähe auf seine Kiste aufmerksam, der sie ihm ohne Umschweife abnahm. Der Klauber beobachtete ihn noch, bis er im Innern der Schmiede verschwunden war, als auf einmal ein gelb gefiedertes Lebewesen heraustrat. Erenville meinte sich zu erinnern, dass er ihm schon einmal begegnet war ... Ach ja! Das Wesen gehörte doch zur Belegschaft der Garlond-Metallwerke! Ein natürliches Interesse an der Klassifizierung von Lebewesen ging mit seinem Beruf einher, daher hatte er sich schon bei der ersten Begegnung gefragt, mit welcher Art er es hier zu tun hatte. Nun war die Gelegenheit gekommen, es herauszufinden.
Ein Lalafell-Ingenieur, der die Uniform der Garlond-Metallwerke trug, begleitete das eigenartige Lebewesen. Wie lautete sein Name noch gleich? Wedge. Genau. Erenville trat an ihn heran und sagte: „Hallo. So sieht man sich wieder.“ Der Angesprochene schien sich an Erenville zu erinnern, denn er entgegnete erfreut: „He! Wie geht’s?“
„Danke der Nachfrage, kann nicht klagen. Machst du gerade Pause?“
„Schön wär’s. Ich muss noch ein paar Besorgungen erledigen. Alpha und sein Kumpel begleiten mich.“
Alpha. So hieß also das Lebewesen. Und sein „Kumpel“ musste dann wohl die käferartige Maschine sein, die sich hinter Alpha aufgebaut hatte. Vermutlich eines jener Spielzeugmodelle, die einem auf dem Fuße folgten. Es sah allerdings nicht gerade so aus, als sei es imstande, irgendwelche Lasten zu tragen. Warum mochte es also hier sein? Was für ein seltsames Grüppchen.
„Sag mal, was ist dieser Alpha eigentlich?“
„Wie, was er ist? Einer unserer Mitarbeiter eben.“
„Das meinte ich nicht. Welcher Spezies gehört er an?“
„Na ja, er ist ein Chocobo.“
Darauf wusste Erenville nichts zu entgegnen. Natürlich war ihm Eorzeas bekanntestes Reittier ein Begriff. Er wusste auch, dass zahlreiche Unterarten existierten, und konnte sogar alle ihre Eigenheiten aufzählen. Aber ein solches Chocobo hatte er noch in keinem bebilderten Nachschlagewerk gesehen, geschweige denn, dass ihm ein lebendiges Exemplar untergekommen wäre.
Alpha hob den Kopf, um den verwirrten Klauber anzusehen.
„Kweh!“
„Klingt zumindest wie ein Chocobo ...“, murmelte Erenville.
Wedge hob triumphierend den Zeigefinger in die Höhe, als wolle er sagen: „Siehst du, ich hatte Recht!“, als auf einmal die Käfermaschine vorpreschte und seine Beine rammte.
Es war weniger der Schmerz als der Schreck, der Wedge aufschreien ließ.
„Wuahhh! Wir müssen los! Unser Chef reagiert auf Faulenzer allergisch! Man sieht sich!“
Wedge rannte los, Alpha ihm kwehend hinterher, und das Schlusslicht bildete die Käfermaschine, die den beiden mit lautem Rattern folgte. Erenville starrte dieser seltsamen Gruppe verdattert hinterher, bis die drei zu einem Punkt in der Ferne wurden, der schließlich verschwand.
Weg waren sie. Und er hatte nicht einmal herausfinden können, ob Alpha tatsächlich ein Chocobo war. Natürlich konnte es sich bei ihm um eine neue, noch nicht kategorisierte Subspezies handeln. In dem Fall musste man sie einfangen, gründlich untersuchen, benennen und bestimmen. Er hatte das bereits unzählige Male gemacht. Auch Alpha würde, wenn man ihn der Forschung übergab, das ihm zustehende wissenschaftliche Etikett erhalten.
„Doch wozu das alles?”, dachte er.
Denk nach. Die Wahrheit stellte alles in den Schatten, was man sich in Sharlayan zu wissen einbildete. Das hatte der Bund der Morgenröte Erenville gelehrt. Die Realität von gestern war anders als die von heute. Galten Drachen noch vor nicht allzu langer Zeit als Todfeinde, war dies nun nicht mehr der Fall. So war es mit allem. Was gewiss war, musste stets hinterfragt werden, da alles dem Wandel unterworfen war. Wann wurde aus dem Unbekannten Bekanntes? „Denk weiter nach. Hör nicht auf zu überlegen ...“, flüsterte eine Stimme tief in seinem Innern.
Während Erenville in Gedanken versunken dastand, hasteten Ingenieure und Handwerker an ihm vorbei. Langsam hob er den Blick, um ihre Gesichter zu mustern. Auf einmal erschienen ihm ihre individuellen Gesichtszüge mit all ihren Sonderheiten neu und fremdartig. Die Worte, die aus ihren Mündern kamen, wirkten seltsam rätselhaft, und kleine Details in der Landschaft, die er nie zuvor bemerkt hatte, stachen Erenville ins Auge.
„Ich bin wirklich blind gewesen“, dachte er und lächelte unwillkürlich.
Alles hing vom Erfolg des Bundes der Morgenröte ab. Erenville atmete tief aus, streckte sich und richtete den Blick wieder nach vorne. Zurück an die Arbeit. Es gab jede Menge zu tun!
Es ging geschäftiger zu als während der betriebsamsten Tage im Jahr, und die Zeit verging wie im Flug. Loporrit hüpften zwischen den Gepäckträgern herum und gaben unaufhörlich plappernd ihr Wissen über den Mond preis, das von den Wissenschaftlern dankbar aufgenommen und verarbeitet wurde. Selbst die Ratsmitglieder ließen sich von der Hektik anstecken und eilten hin und her, um die Fortschritte des Projekts zu verzeichnen. Als Erenville zum zweiten Mal Kokkols Schmiede betrat, brüllte dieser noch immer Befehle herum, doch seine Stimme klang mittlerweile etwas heiser. In Thaumazein lief man Tag und Nacht Mitarbeitern der Garlond-Metallwerke über den Weg, und Alchemisten aus Radz-at-Han, in farbenfrohe Kleider gewandet, steckten ihre Köpfe mit den Ingenieuren zusammen, um sich danach sofort wieder an die Arbeit zu machen. Ihre Familien sowie das stets verlässliche Personal der Letzten Bastion bereiteten mit Zutaten, die von Meryalls Agrarbotanik und dem Milchbetrieb Mitato offeriert worden waren, nahrhafte Mahlzeiten zu und verteilten sie unter den Arbeitenden. Außerdem gingen ständig Warenspenden wie Kaffeepulver, Chai-Tee und Vitaminpräparate ein. Jemand breitete eine Wolldecke über einen erschöpften Helfer, der sich auf dem Boden schlafen gelegt hatte.
Nach und nach legte sich das Treiben, so wie Regen, der nach einem gewaltigen Sturm langsam nachlässt. Als Erenville das letzte Gepäckstück in Klein-Sharlayan abgelegt hatte, waren die meisten mit ihrer Arbeit fertig. Diejenigen, die keine Beschäftigung mehr hatten, versammelten sich im Labyrinthos, um falls nötig zu Hilfe eilen zu können.
Auf einmal erklang im künstlichen Himmel über den Köpfen der Leute das Läuten einer Glocke, und aus den allerorts angebrachten Lautsprechern schallte eine von Störgeräuschen überlagerte Stimme.
„Guten Tag, verehrte Damen und Herren. Hier spricht Fourchenault Leveilleur, Mitglied des Rates der Philosophen.“
Alle hielten gebannt den Atem und blieben stehen. Fourchenault bedankte sich zunächst für die enormen Anstrengungen der Helfer und teilte danach mit, dass noch einige Überprüfungsarbeiten ausstünden.
„Aber“, so fuhr er fort und die Spannung unter den Leuten stieg, „die Arche ist vollendet. Nun lasst uns nach den Sternen greifen!“
Einige Sekunden herrschte Stille, da jeder das Gesagte erst verarbeiten musste, bevor tosender Applaus und Jubel ausbrachen. In Sharlayan und im Labyrinthos lachten und weinten die Leute, umarmten sich und klopften einander auf die Schultern. Jeder zeigte seine Freude auf eine andere Weise.
Erenville seufzte erleichtert. Er war nicht jemand, der seine Gefühle nach außen trug, aber innerlich war er ähnlich aufgewühlt wie alle anderen.
Mögen sie bei den Sternen ankommen. Am Ende allen Seins. In der noch unbekannten Zukunft dieses Planeten.
Seine Gebete mussten erhört worden sein.
Das Brennen des Himmels war erloschen und Frieden in die Stadt des Wissens zurückgekehrt. Wieder war Erenville unterwegs zu Baldesions Annex, doch dieses Mal trug er keinen Brief bei sich. Stattdessen hatte er einen Vorschlag vorzuweisen: Er würde Baldesions Gelehrten weiterhin seine Unterstützung anbieten. Im Gegenzug erwartete er, dass man ihm ein wenig bei den Aufräumarbeiten nach dem Exodus zur Hand ging. Obschon er die Befürchtung nicht ganz ablegen konnte, in irgendwelche lästigen Angelegenheiten verwickelt zu werden, wenn er sie um Hilfe bat. Aber sein Respekt vor dem, was sie geleistet hatten, überwog seine Sorge.
Vielleicht war der Tag nicht mehr fern, an dem er sich der Aufgabe stellen sollte, die er die längste Zeit vor sich hergeschoben hatte. Diese Aufgabe war der Grund, weshalb er sich damals für den Weg des Klaubers entschieden hatte, noch lange bevor er seinen neuen Namen angenommen hatte ...
Krile drehte sich überrascht um, als Erenville die Tür aufstieß und mit entschlossenem Blick den Raum betrat.