Der Lodestone

Geheime Geschichten aus den Schatten

Ein Name, ein Versprechen


„In diesem Schlupfwinkel der Piraten und Diebe pflegen sich jene, die die dunkelsten Schatten werfen, bevorzugt in Weiß zu kleiden. Das hilft ihnen dabei, mit dem Straßenbild zu verschwimmen. In diesem Sinne warst du wohl für diese Arbeit geboren ...“

Dies murmelte der Mann gleichgültig, als er dem kleinen Jungen durch die silbernen Locken strich. Sie waren weder Vater und Sohn, noch sonst irgendwie verwandt. Nein, dieses ungleiche Paar war lediglich ein Junge, der nichts außer dem Leben auf der Straße kannte, und ein Kaufmann von zweifelhaftem Ruf, der nur allzu begierig war, den Knaben für seine dubiosen Machenschaften zu missbrauchen. Geschäftspartner, nichts weiter.

Damals, in den Tagen, bevor Admiral Merlwyb die Piraterie verbot und ein gesundes Maß an Ordnung nach Limsa brachte, herrschten andere Umstände in dem gesetzlosen Juwel an der Küste. In dieser Welt des Fressen-und-gefressen-Werdens konnte es ein Straßenjunge schlechter erwischen, als sich mit einem Schwarzmarkthändler von fragwürdigem Charakter zusammenzutun.

Nun, einige Arbeitgeber waren schlecht und andere schlimmer. Wer sich von der Aussicht auf eine schnelle Münze locken ließ, fand nur allzu oft eine Messerspitze auf seine Brust gerichtet. Nur eines änderte sich nie – sobald der Auftrag erledigt war, trennten sich die Wege der Beteiligten, manchmal ohne ein Wort der Verabschiedung. So verbrachte Thancred seine prägenden Jahre. Immerhin war er ein begabter Schüler, agil und scharfsinnig. Er konnte auf sich selbst aufpassen und sich von den Gefahren fernhalten, die an jeder Ecke lauerten.

Er vermochte es, sich mit den Artigen Schwestern gutzustellen – den Bewahrern des Kodex, die selbst von den berüchtigtsten Säbelschwingern gefürchtet wurden. Und doch entschied er sich schließlich dafür, weiterzuziehen. Irgendetwas an ihnen – vielleicht die ruhige Leidenschaft oder der Stolz auf ihre Arbeit – kam dem Jungen stets eigenartig vor.

Das Leben war weder besonders luxuriös noch einfach, doch es war das einzige Leben, das er kannte. Und doch sollten sich seine Umstände schon bald plötzlich ändern. Eines Tages wollte Thancred seine Fähigkeiten mal wieder am Hafen zum Einsatz bringen. Händler von jenseits der Meere waren eingetroffen, und die Gilbeutel würden prall gefüllt und reif zum Pflücken sein.

Der ältere Mann, den er törichterweise als Opfer auserkor, hatte jedoch andere Vorstellungen. Gerade wollte er den Alten geschickt um seinen schweren Beutel erleichtern, da fand er sich auch schon auf seinem Hintern wieder – seine Gliedmaßen von einer Magie gefesselt, deren Stärke alles ihm Bekannte weit übertraf. Er knirschte mit den Zähnen und bereitete sich schon darauf vor, in einem Kerker zu verrotten – wenn er überhaupt mit dem Leben davonkommen sollte. Doch dann passierte etwas Ungewöhnliches. Der Mann nahm ihn bei der Hand, führte ihn zu einer ruhigen Ecke fernab der geschäftigen Menge, blickte ihm direkt in die Augen und sprach in einem gemäßigten Ton.

„Mein Name ist Louisoix Leveilleur. Ich bin ein Gelehrter aus Sharlayan, jenseits des Meeres nördlich von hier. Wie heißt du, mein Junge?“

„Thancred“, murmelte der Junge, der noch immer seine Fassung nicht ganz wiedererlangt hatte.

„Thancred und wie weiter? Wo ist deine Familie?“, fuhr der alte Mann mit ernster aber sanfter Stimme fort.

„Einfach nur Thancred, nehme ich an“, sagte der Junge schulterzuckend. „Und ich habe keine Familie – zumindest keine, von der ich wüsste.“

Der Mann, der sich selbst Louisoix nannte, stutzte einen Moment und strich sich durch seinen Bart. Dann öffnete er seinen Mund und sprach mit einer Stimme, die plötzlich von gewichtiger und brennender Leidenschaft geprägt war. Er sprach Worte, die Thancred selbst in seinen wildesten Träumen nie zu hören gedacht hätte.

„Du bist schnell und hast einen flinken Körper und wachen Verstand. Wenn du doch nur an einem Ort wärst, an dem du lernen könntest, diese Gaben für das Wohl anderer einzusetzen, anstatt sie als Mittel zum Überleben zu verschwenden – ja, dein Leben könnte eine ganz andere Richtung einschlagen ...“

Thancred lauschte den Worten schweigend, doch sein Stirnrunzeln sprach Bände. „Es ist nicht so, dass ich dieses Leben freiwillig gewählt hätte, weißt du?“ Louisoix antwortete mit einem traurigen und doch wissenden Lächeln. Dann sprach er die Worte, die das Leben des Straßenjungen für immer verändern sollten.

„Komm mit mir nach Sharlayan. Du bist ein begabtes Kind, und es gibt viel, das du lernen solltest ...“

Und so begann ein neues Leben für Thancred.

Um diesen Anlass zu begehen, sollte Thancred den Nachnamen „Waters“ annehmen. Derlei Schnörkel waren in den Straßen von Limsa nicht nötig, doch an respektableren Orten würden sie unverzichtbar sein. Thancred sträubte sich zunächst, da er seine niedere Herkunft nicht direkt jedem auf die Nase binden wollte, doch Meister Louisoix wischte seine Bedenken beiseite. „Thaliak, Wächter der rauschenden Gewässer und Bringer des Wissens“, sinnierte der Weise. „Ein Junge wie du könnte einen schlechteren Beschützer erwischen.“ Und so nahm Thancred widerwillig den Namen an, den er schließlich mit Stolz tragen würde.

Louisoix fand auch einen geeigneten Mentor für das Kind – einen alten Meister in verdeckten Operationen, der Thancred ausbilden würde, um in seine Fußstapfen zu treten. Sharlayan war schließlich eine Gesellschaft, die Wissen und Expertise in all ihren Formen zu schätzen wusste. Geheimagenten wurden nicht als zwielichtige Schurken verachtet, sondern genossen Respekt als wichtige Säulen der Nation. Und es war in diesem Feld – davon war Louisoix überzeugt –, wo der Junge seine Fähigkeiten verfeinern und zu sich selbst finden sollte.

Thancred war von dieser Wende des Schicksals verblüfft, doch er war kein Dummkopf. Er begriff schnell, welche Zukunft Louisoix sich für ihn vorgestellt hatte, und er bemühte sich, alles zu tun, um das zu erreichen, was sein Förderer von ihm erwartete. Er stählte seinen Körper, um über die Stärke, Agilität und Ausdauer zu verfügen, um selbst die uneinnehmbarsten Festungen unter schwierigsten Bedingungen infiltrieren zu können. Zudem entwickelte er eine Gabe für die Redekunst und Irreführung, die es ihm erlauben sollte, selbst die wachsamsten Augen in angespannten Situationen zu täuschen.

Bevor er sich versah, wuchs der Straßenjunge aus Limsa deutlich über sich hinaus. An dessen Stelle stand nun ein selbstbewusster Jugendlicher, der sich lange genug als Freund und Vertrauter von jedermann ausgeben konnte, um das von seinem Kunden gewünschte Wissen zu erlangen.

Und so kam es, dass Thancreds unvergleichliche Fähigkeiten Aufmerksamkeit erregten und sein Körper mit dem Symbol der Exegeten geziert wurde. Als Louisoix das Zeichen sah, konnte er seine Freude kaum bändigen – der Junge, den er persönlich an diese Küsten gebracht und unter seine Fittiche genommen hatte, hatte sein Versprechen gehalten und sein Potenzial ausgereizt.


Es war in etwa zu jener Zeit, als Thancred das junge Mädchen traf, das er lediglich als Ascilia kannte. Als einer der ersten Rekruten von Meister Louisoix’ Exegeten befand er sich auf einer streng geheimen Mission in Ul’dah - mit dem Auftrag, alles zu tun, um den Flammen des Krieges, die Eorzea zu verzehren drohten, Einhalt zu gebieten.

Für seine Bekanntschaften war er lediglich ein reisender Schwertkämpfer, der seine Fähigkeiten im Land der Gladiatoren und Söldner zu verfeinern suchte. In Wahrheit bestand seine Mission allerdings darin, sein Wissen über die Primae als Faustpfand einzusetzen, um das Vertrauen des Scorpio-Kreises, der Sultana und eines jeden zu gewinnen, der in diesem an Wohlstand und Intrigen reichen Land über Einfluss verfügte. Das alles in der Hoffnung, die Gefahr aus Garlemald, des tyrannischen Kaiserreiches, das ganz Eorzea zu versklaven suchte, zurückzuschlagen – wenn auch nur für einen Moment.

Doch selbst die am besten ausgeklügelten Pläne gehen häufig schief, und es dauerte nicht lange, bis die Tragödie ihren Lauf nahm. Das Mädchen, mit dem Thancred sich gerade erst angefreundet hatte, ereilte ein unvorstellbar grausames Schicksal. Wie sollte er die Gefühle und Gedanken, die ihm an diesem Tag durch den Kopf gingen, beschreiben? Den Anblick, wie dieses aufrichtige und sensible junge Kind sich an den Körper ihres toten Vaters klammerte und ihn aus tiefster Seele anflehte, bei ihr in dieser Welt zu bleiben?

Einem Teil von ihm war schmerzlich bewusst, dass dieses Mädchen nun alleine in der Welt sein würde – so, wie es auch ihm viele Jahre lang ergangen war. Dieser Teil von ihm bemitleidete sie. Auch sie würde gezwungen sein, viel von dem, was sie zu sein glaubte, aufgeben zu müssen, um in dieser grausamen und kaltherzigen Welt zu überleben. Ein anderer Teil von ihm – ein eher egoistischer Teil, wie er sich eingestehen musste – war von Schmerz und Bedauern erfüllt. So weit er es auch gebracht hatte – und so sehr er seine Fähigkeiten auch zu verbessern vermocht hatte –, konnte er am Ende doch nichts tun, um irgendetwas für diese unschuldige Seele in der Zeit ihrer größten Not zu tun.

Doch was zählte das am Ende schon? Wie auch immer Thancred versuchte, es zu beschreiben oder zu erklären, die Wahrheit war nicht zu verleugnen: Ich konnte sie nicht beschützen. Ich habe versagt, als sie mich am meisten gebraucht hätte.

Zum Glück hatte das Mädchen Freunde in der Welt. Schon bald fand sie Zuflucht bei der Sängerin F’lhaminn, die zu ihrem Vormund und Beschützer wurde.

Und so kam Thancreds Rolle in ihrer Geschichte zu einem Ende – sollte man zumindest meinen. Doch aus Gründen, die er sich selbst kaum zu erklären wusste, konnte er nicht einfach so von ihr loslassen. War es das Wissen, dass der Vater des Mädchens ein garleischer Doppelagent war, und die Gefahr, die ihr aufgrund dessen womöglich noch immer drohte? Es war auch egal – auf jeden Fall redete er sich dies selbst ein.

Er hatte ohnehin wichtigere Dinge zu erledigen. Doch wann immer seine verdeckten Operationen ihn nach Ul’dah führten, warf er ein wachsames Auge auf Ascilia und sah zu, dass sie nicht in irgendwelche zwielichtigen Machenschaften verwickelt wurde. Einfache Straßenschläger stellten keine Herausforderung für ihn dar, doch mitunter stand er garleischen Geheimagenten gegenüber, die zweifellos der Spur ihres Vaters gefolgt waren. Bei diesen unliebsamen Begegnungen lief ihm stets ein kalter Schauer den Rücken herunter.

Als es deutlich wurde, dass es nahezu unmöglich sein würde, sie jemals abzuschütteln, entschloss Thancred sich dazu, aus den Schatten hervorzutreten und dem Mädchen einen Vorschlag zu unterbreiten.

„Du solltest einen neuen Namen annehmen und ein neues Leben führen. Nur so kannst du dich aus dem Schatten deines Vaters befreien. Vertraue mir, es ist zu deinem eigenen Wohl.“

Die junge Ascilia blickte ihm tief in die Augen und dachte ohne einen Anflug von Voreingenommenheit über die Gewichtigkeit seiner Worte nach. Nach einer Weile nickte sie zustimmend. „Also gut. Aber welchen Namen soll ich annehmen?“

Thancred schloss die Augen, dachte einen kurzen Moment nach und sprach dann.

„Minfilia“, sagte er mit stiller Überzeugung, „Minfilia Warde“.

Es war kein so weise gewählter Name wie jener, den Louisoix ihm vor vielen Jahren gab. Im Gegenteil, es war ein recht gewöhnlicher Name für ein Hochländer-Mädchen – jedoch nicht so abgedroschen, dass er unnötige Aufmerksamkeit erregen würde. Mit anderen Worten: Es war genau die Art von gewöhnlichem Namen, der ihre Sicherheit gewährleisten würde – anonym und außer Sichtweite, wenn Thancred nicht zugegen sein sollte.

Ascilia – Minfilia, wie sie von nun an für viele Jahre bekannt sein würde – lächelte.

Eines Nachts nach einer Aufklärungsmission streifte Thancred ziellos durch die Straßen von Ul’dah, wie er das häufig tat. Dabei fiel ihm Minfilia ins Auge, mit einer Spitzhacke in der Hand und wie ein Sammler gekleidet. Das Mädchen ist wirklich mit vollem Einsatz bei der Sache, dachte er.

„Ist irgendwas passiert?“, fragte er. „Du bist doch sonst nicht so spät abends noch unterwegs.“

„Oh, Thancred ...“, erwiderte Minfilia mit ruhiger Stimme. „Es ist nichts, wirklich. Ich bin einfach nur ... ein wenig aufgehalten worden.“

Nach außen hin ließ sie sich nichts anmerken, doch irgendetwas lastete auf den Schultern des Mädchens. Also schenkte Thancred ihr ein verständnisvolles Lächeln und bot an, sie nach Hause zu begleiten. Es war nicht weit bis zu der bescheidenen Unterkunft, in der sie mit F’lhaminn lebte, und er hoffte, vielleicht etwas mehr darüber erfahren zu können, was sie aufgehalten hatte, um ihre Bürde ein wenig zu erleichtern. Die Unterhaltung schweifte jedoch schnell ab, sodass sie bei Gelächter über die neuesten Gerüchte und nach ein wenig unbedeutendem Tratsch auch schon an ihrem Ziel angelangten.

„Vielen Dank, Thancred. Ich nehme an, du machst dich nun auf den Weg in die Taverne? Trink bitte nicht so viel. Du vergisst dich gerne mal, besonders in der Gesellschaft von Frauen ...“, ermahnte ihn Minfilia.

„Ich werde deinem Rat folgen, als hinge mein Leben davon ab“, erwiderte Thancred in einem Ton, der deutlich machte, dass er nicht die geringste Absicht hatte, ihrem Wunsch nachzukommen.

Minfilia stieß einen Seufzer aus, als wollte sie Es ist hoffnungslos mit dir sagen und öffnete die hölzerne Tür. Für einen Moment schien das warme, orangene Licht der Laternen im Inneren auf Thancred und die zuvor dunkle Gasse. Er winkte zum Abschied, und das Mädchen verschwand in der hellen, einladenden Unterkunft. Die Tür schloss sich mit einem Knarzen hinter ihr und mit dem Licht verschwand auch die flüchtige Erscheinung von heimeliger Wärme und Ruhe.

Von der anderen Seite der Tür – eine Welt, die für ihn genauso gut tausend Malme weit weg gewesen sein könnte – drang eine sanfte Stimme an Thancreds Ohr.

„Willkommen zu Hause, meine Liebe ...“

Wieder allein in der schattigen Gasse atmete Thancred tief durch. War seine Gestalt damals von Sehnsucht oder Bedauern geprägt? Niemand – am wenigstens er selbst – vermochte es, sie zu sehen, ehe er von der Dunkelheit verschluckt wurde. Und doch blieb ihm keine Zeit für Selbstmitleid oder Grübeleien. Es spielte keine Rolle, was jenseits dieser Tür lag. Seine Aufgabe war es gewesen, das Mädchen sicher nach Hause zu geleiten, nichts weiter. Dies war keine Herausforderung für den Exegeten, und er hatte seine Pflicht mit unerschütterlichem Stolz und einem Gefühl von Entschlossenheit erfüllt.

Wie viele Jahre waren seit jenem Tag vergangen? Thancred hatte schon lange aufgehört, sie zu zählen. Er fand sich in der ersten Splitterwelt – wahrhaftig Welten von seiner Heimat entfernt – in einer Kerkerzelle tief unter dem utopischen Stadtstaat Eulmore wieder. Und genau wie in seinen jüngeren Jahren war er auf einer Mission: Die Rettung eines jungen Mädchens.

Eulmore erhob sich über ihm, ein majestätisches Gebäude aus makellosem weißen Marmor. Natürlich gab es viele Unterschiede, doch Thancred konnte nicht umhin, sich an Limsa Lominsa erinnert zu fühlen, und an die Worte, die sein einstiger Arbeitgeber so unverhohlen gegenüber seinem jüngeren Selbst geäußert hatte.

In diesem Schlupfwinkel der Piraten und Diebe pflegen sich jene, die die dunkelsten Schatten werfen, bevorzugt in Weiß zu kleiden.

Thancred legte vorsichtig die Ausrüstung des eulmorischen Soldaten ab, als welcher er sich verkleidet hatte, und warf sich seinen eigenen Mantel über, der reinweiß leuchtete. Die Ironie des Ganzen rang ihm ein leises Lachen ab. Die Kleidung war leicht und schränkte seine Bewegungsfähigkeit nicht ein – perfekt für einen Mann, der seine beiden Dolche gegen eine Revolverklinge eingetauscht hatte. Ein Mann, der sich von nun an einem Schild gleich schützend vor seine Freunde und Verbündeten stellen würde.

Das Weiß war ebenfalls Thancreds eigene Wahl – eine Farbe, die es ihm gestatten würde, sich optisch einzufügen und in dieser von Licht überfluteten Welt zu verschwinden. Wäre er ein ehrbarer Ritter mit einem brennenden Sinn für Gerechtigkeit gewesen, dann hätte er sich zweifelsohne in Schwarz gehüllt und die Flagge der Rebellion und des Widerstands gegen dieses Land getragen, in dem sich widerwärtige Fettwänste für Vorbilder an Weisheit und Tugend ausgaben.

Doch solche Gedanken waren rein akademischer Natur und seiner bevorstehenden Aufgabe nicht dienlich. Er sollte sie retten – die Mittel dazu waren egal, es zählte einzig das Resultat.

Das gewaltige Riff, auf dem Eulmore in den Himmel ragte, erstreckte sich bis tief unter die Oberfläche des Meeres. Die riesige unterirdische Kammer, in der Thancred sich befand, soll einst ein Lager gewesen sein und später als sichere Zuflucht vor Sündenvertilgern gedient haben. Unter der Herrschaft des tyrannischen Lords Vauthry wurde sie zu einem provisorischen Kerker und einer Vorratskammer für Meol umfunktioniert.

Thancreds Ziel war die tiefste Kammer dieser unterirdischen Halle – ein Ort, den er erst nach vielen Monden akribischer Aufklärungsarbeit entdeckt hatte. Thancred entzog sich geschickt den Augen der Wachleute und schaltete mühelos jene aus, die ihm bei seiner Flucht in die Quere kommen könnten. Ehrlich gesagt wäre es ein Leichtes für ihn gewesen, selbst das schwer bewachte Eulmore alleine zu infiltrieren. Doch wenn es jemanden von diesem Ort zu eskortieren galt – noch dazu ein Kind ohne jegliche Erfahrung auf dem Schlachtfeld –, konnte er nicht vorsichtig genug sein. Aus diesem Grund hatte er seine Mission nach seiner Ankunft in dieser fremden Welt für lange Zeit geplant.

Nachdem er eine weitere Wache ausgeschaltet hatte – inzwischen hatte er schon die Übersicht darüber verloren, wie viele es wohl waren –, gelangte er endlich an sein Ziel. Das Kind, das hier auf ihn wartete, war in dieser Welt bekannt unter dem Namen „Minfilia“. Der Kristallexarch selbst hatte ihn gewarnt, kein Wiedersehen mit der Minfilia, die er kannte, zu erwarten. Und dennoch – wie sollte er dieses Gefühl erklären? – fühlte Thancred eine unauslöschliche Verbindung zu diesem Mädchen, das er hier zum erstem Mal treffen würde. Er wusste, dass er ohne zu zögern an ihre Seite eilen musste. Er atmete leise aus, drehte den Schlüssel und öffnete die Tür schnell und geräuschlos.

Die Kammer, die sich ihm offenbarte, war erschreckend gewöhnlich. Thancred hatte eine finstere Zelle erwartet, doch vor sich fand er ein einfaches, aber gemütlich aussehendes Bett und eine kleine Kommode mit Schubladen. Dort stand ein Tisch samt passendem Stuhl, an dem man lernen konnte, komplett mit Pergament und Feder. Das Prunkstück des Raums war ein gewaltiges Bücherregal, das von oben bis unten mit beeindruckenden Folianten gefüllt war. Abgesehen von den fehlenden Fenstern – ein notwendiger Kompromiss, da die Kammer sich einige Yalme unter der Wasseroberfläche befand – gab es an dieser Unterkunft kaum etwas auszusetzen.

Das machte diese provisorische Zelle jedoch nur noch beunruhigender. Es war weder ein finsterer Raum der Verzweiflung, noch war hier jegliche Hoffnung zu finden. Es war lediglich ein Ort für den Herrscher von Eulmore – einen selbsternannten Erlöser –, um das Orakel des Lichts bis ans Ende aller Tage als seine Gefangene zu halten.


Das Kind, das auf dem Bett in der Mitte der Kammer saß, drehte sich zu dem so plötzlich eingetroffenen und seltsamen Gast hin und ihre kristallblauen Augen musterten ihn misstrauisch.

„Wer ... Wer bist du?“ Die Stimme des Mädchens – zögerlich, aber mit einem Anflug von Hoffnung – war ähnlich, aber doch gänzlich anders als die der jungen Ascilia.

Ein anderes Leben hatte jenseits dieser Tür gewartet. Ein Leben voller Liebe und Hoffnung. Mit Familie.

„Minfilia ... Es ist Zeit, zu gehen.“

Thancred sprach den Namen mit unerschütterlicher Entschlossenheit in seinem Herzen und erinnerte sich an das Lachen des jungen Mädchens, das es ihm vor all den Jahren geschenkt hatte.

Er streckte ihr die Hand entgegen, die das Mädchen behutsam ergriff. Der unbeschreibliche Bund zwischen den beiden Gefährten wurde gerade erst geschmiedet und doch erstreckte er sich bereits über Raum und Zeit.

Dieses Mal werde ich es richtig machen. Ich verspreche es.