Im Schatten des Vaters
„Ostend ist gefallen?“
Kommandant Conrad, dem Anführer der Befreiungskämpfer in Rhalgrs Wacht, entfuhr ein tiefes Seufzen. Die im Mischwald stationierten Befreiungskämpfer hatten den jüngsten Angriff der Garlear nicht überlebt. Das war bitter.
Um im Kampf gegen den übermächtigen Feind überhaupt eine Chance zu haben, hatte sich die Befreiungsarmee in zahlreiche Gruppierungen gespalten, die über ganz Gyr Abania verteilt einen Guerillakrieg gegen die Besatzer führten. Ein besiegter Verband bedeutete nicht gleich das Ende des Widerstands. Aber die Männer und Frauen, die es diesmal getroffen hatte, waren Veteranen gewesen. Die meisten hatten sich den Garlearn seit Anfang des Befreiungskampfes vor zwanzig Jahren widersetzt. Der Tod solch erfahrener Kameraden schmerzte doppelt, und die Enttäuschung war überall in Rhalgrs Wacht deutlich spürbar. Selbst Meffrid, der in all den Jahren schon viele Rückschläge miterlebt hatte, machte ein missmutiges Gesicht.
„Die Ostend-Gruppierung hatte die Route über den Wall gesichert", seufzte er. „Ohne die kommen die Flüchtlinge aus Ul'dah nicht zurück. Und den zwei Exegeten, die uns um Asyl gebeten haben, werden wir ebenfalls nicht helfen können.“
M'naago, die der Befreiungsarmee erst vor kurzem beigetreten war, zog die Brauen in die Höhe.
„Exegeten? Was sind das für Leute? Wieso kommen die freiwillig her?“
In der Tat gab es viele, die aus Gyr Abania fliehen wollten. Aber nach Gyr Abania fliehen? Das war neu.
„Sie gehören zum Bund der Morgenröte, der uns bereits in der Vergangenheit zur Seite stand. Eine von ihnen ist die Tochter von Curtis Hext.“
M'naago konnte ihre Überraschung nicht verbergen. Curtis Hext war für die Befreiungskämpfer ein Held. Jedes Kind kannte die Geschichte von seinem Aufstand gegen den Tyrannenkönig Theoderic. Er war einer der Väter der Revolution.
„Die Tochter von Curtis will uns helfen? Das meinst du nicht ernst, oder?“
Conrad nickte. „Oh doch. Ihr Name ist Yda. Sie floh bei Ausbruch des Bürgerkriegs und studierte eine Weile bei den Gelehrten von Sharlayan, bevor sie dem Bund der Morgenröte beitrat.“
Der Bund der Morgenröte. Von dem hatte M'naago schon gehört. Er war spätestens seit dem Bankett in Ul'dah wieder in aller Munde. Yda und einer ihrer Gefährten waren in die dortige Intrige verwickelt worden und nun auf der Flucht. Sie hatten einen verdeckt arbeitenden Befreiungskämpfer getroffen und um Hilfe gebeten. Die Kameraden in Ostend hätten die beiden nach Gyr Abania schleusen sollen, aber diesen Plan hatten die Garlear mit ihrem Angriff unbewusst durchkreuzt.
Wir mögen in ihrer Schuld stehen, aber es gibt wohl nichts, was wir momentan für sie tun könnten, dachte M'naago. Doch Conrad schien da anderer Meinung zu sein.
„Jetzt liegt es an uns, die Kohlen aus dem Feuer zu holen. Wir werden die Exegeten selbst retten“, verkündete er mit fester Stimme.
„Bist du dir sicher, Conrad? Das klingt verdammt gefährlich.“
Nervös zupfte M'naago an der Sehne ihres Bogens.
„Das Risiko ist es wert“, bemerkte Meffrid mit ruhiger Stimme. „Die Exegeten könnten für unseren Kampf die langersehnte Wende bringen.“
Ihr Ausbilder und der Kommandant hatten vermutlich Recht. Der Bund der Morgenröte war bestens mit den herrschenden Fraktionen in Eorzea vernetzt. Beim Marsch der Weisen, der zur Vernichtung der XIV. Legion von Gaius van Baelsar geführt hatte, hatten die Exegeten eine entscheidende Rolle gespielt. Wenn die Befreiungsarmee sich Beistand von der Eorzäischen Allianz erhoffte, wären die Kontakte des Bundes sicher von Nutzen. Der Versuch, zwei seiner Mitglieder zu retten, war also nicht ganz uneigennützig.
„Außerdem gibt es viele, die Curtis' Tochter am geeignetsten halten, Conrads Nachfolge anzutreten.“
„Diese Yda?“
„Ganz genau. Wir brauchen jemanden, der die einzelnen Verbände unserer Armee unter einem Banner versammeln kann. Mit unserer Guerillataktik können wir die Garlear vielleicht ärgern, besiegen werden wir sie aber sicher nicht.“
Conrad, so schien es, erhoffte sich viel von Curtis' Tochter. Hoffnung war nie verkehrt, das sah auch M'naago so, aber diese völlig unbekannte Fremde gleich als neue Kommandantin ins Spiel zu bringen? Das ging ihr etwas zu weit.
„Ich kann deine Vorbehalte verstehen“, warf Meffrid ein, dem der Unmut in M'naagos Blick nicht entgangen war. „Aber was bleibt uns übrig? Es bröckelt längst in unseren Reihen. Denk an die Eisenmasken.“
Die Eisenmasken ... M'naago machte ein zerknirschtes Gesicht. Die Eisenmasken waren eine besonders radikale Fraktion des Widerstandes, die das Ruder an sich reißen wollte. Manche munkelten gar, ihr Anführer sei ein direkter Nachkomme des Tyrannenkönigs. Der Konflikt schwelte schon lange, und es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis er mit aller Brutalität ausbrechen würde.
„Wir treffen die beiden, und dann sehen wir weiter. Pack deine Sachen, M'naago. Wir brechen bei Sonnenuntergang auf.“
Und so ward der Plan gefasst. Meffrid und M'naago würden einen alten Tunnel benutzen, um sich an dem kürzlich errichteten Wachturm der Garlear vorbei in den Finsterwald zu schleichen. Damit sie den unbemerkt erreichten, wollten Conrad und die anderen ein Ablenkungsmanöver starten. Es war riskant. Ein Scheitern würde vermutlich das Ende von Rhalgrs Wacht bedeuten. Aber sie hatten keine andere Wahl ...
Das Paar, das M'naago und Meffrid unter Einsatz ihres Lebens nach Rhalgrs Wacht zurückbrachten, hätte ungleicher nicht sein können. Der Lalafell Papalymo, ein Thaumaturg, agierte besonnen und vorausschauend, während seine Gefährtin Yda dazu neigte, erst zu schlagen und dann zu fragen. Beide einten ihre schweren Wunden - sowohl seelisch als auch körperlich. Der Schmerz über Verrat und den Verlust guter Freunde saß tief. Doch mit der Zeit gewannen die zwei ihre Zuversicht und körperlichen Kräfte zurück.
Um sich bei ihren Rettern erkenntlich zu zeigen, boten Papalymo und Yda an, Conrads Einheit unter die Arme zu greifen. Dieser Umstand machte sie in M'naagos Augen sehr sympathisch, aber dass Yda ihren geliebten Kommandanten ablösen sollte, konnte sich die junge Rebellin immer noch nicht vorstellen. Bis zu jenem Tage ...
M'naago war mit Yda auf Patrouille in der Nähe von Castrum Oriens, als die beiden einen grellen Schrei vernahmen.
„Ein Mädchen? Hier im Wald?!“
M'naago wollte ihren Ohren nicht trauen. Der Ostend-Mischwald war schon lange unbewohnt. Höchstens Späher oder Transporteure der Garlear traf man auf seinen Pfaden.
„Los, M'naago! Wir sehen nach!“
Ohne auf eine Antwort zu warten, stürmte Yda los. M'naago setzte ihr sofort nach. Sie brauchten nicht lange zu suchen. Einige Dutzend Yalme entfernt sahen sie das Mädchen. Es kauerte am Fuß eines großen Baumes. Zitternd am ganzen Leib, vor sich ein Mann, der aus einer klaffenden Wunde am Bauch blutete.
„Sieht aus wie ein Kämpfer der Befreiungsarmee. Könnte ein Überlebender des Gefechts von neulich sein“, mutmaßte M'naago.
Yda hatte bereits damit begonnen, die Wunden des Verletzten zu versorgen.
„Das klären wir später. Jetzt bringst du erst mal das Mädchen in Sicherheit!“
„Wie bitte?!“
„Papalymo hat mir erzählt, dass die Garlear ihre Gefangenen absichtlich verwunden und dann laufen lassen. Als Köder! Das hier könnte eine Falle sein!“
„Dann kann ich dich doch nicht alleine lassen!“
„Willst du etwa dieses unschuldige Mädchen mit reinziehen? Ich komme schon klar. Und der hier wird's auch überleben. Na los, jetzt mach schon!“
M'naago verstand die Notwendigkeit. Dies war imperiales Gebiet. Das Mädchen schwebte in größter Gefahr. Aber das galt auch für Yda und den Verwundeten. Also gut ... Sie würde die Kleine so schnell es geht in Sicherheit bringen und dann zurückkehren. Und natürlich Verstärkung rufen.
Das Mädchen wusste nicht, wie ihm geschah, als M'naago es an die Hand nahm und davonpreschte. Noch im Laufen bat sie über ihre Kontaktperle um Unterstützung. Sie rannte nach Norden, Hauptsache weg vom garleischen Stützpunkt. Zu ihrer Erleichterung lief ihnen schon bald die Mutter des Mädchens über den Weg. Sie hatte verzweifelt nach ihrer Tochter gesucht. Die Frau war wie eine Jägerin gekleidet und erweckte den Eindruck, ganz gut auf sich und ihre Tochter aufpassen zu können. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, machte M'naago kehrt und rannte dahin zurück, wo sie hergekommen war.
Ihr Herz klopfte, als sie Yda erreichte, doch ihre Sorgen sollten sich als unbegründet erweisen. Es hatte tatsächlich einen Kampf gegeben. Um den verletzten Befreiungskämpfer lag ein ganzer Trupp garleischer Soldaten - einige krümmten sich schmerzhaft, andere hatten das Bewusstsein verloren. Und zwischen ihnen ragte Yda auf, noch immer mit geballten Fäusten - blutverschmiert, aber guter Dinge. Für den wildfremden Mann und das Mädchen hatte sie ihr Leben riskiert. Sie hatte hoch gepokert. Zu hoch vielleicht, wie Papalymo ihr in seiner Standpauke später vorwarf. Aber M'naago hatte Ydas Selbstlosigkeit zutiefst beeindruckt.
Als sie nach Rhalgrs Wacht zurückgekehrt waren, konnte M'naago deshalb nicht mehr an sich halten. „Du musst unbedingt der Befreiungsarmee beitreten, Yda!“, platzte es aus ihr heraus. Die erhoffte Antwort blieb allerdings aus.
„Dein Angebot ehrt mich“, erwiderte Yda, „doch ich kann es nicht annehmen. Das habe ich auch Kommandant Conrad schon gesagt.“
„Aber wieso?! Man erhofft sich Großes von dir. Du bist die Tochter von Curtis Hext! Dir würden sie alle folgen!“
Yda lächelte gequält.
„Mein Vater war mutig und schlau, keine Frage. Ein geborener Anführer. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich auch einer bin. Zumindest noch nicht. Ich bin vielleicht nicht so klug wie Papalymo, aber so viel verstehe selbst ich.“
„Aber ...“
M'naago wollte Yda umstimmen, doch die ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen.
„Außerdem brauchen mich meine Freunde. Ich muss Papalymo und den anderen helfen. Das ändert natürlich nichts daran, dass wir auch gute Freunde sein können, nicht wahr, Naago?“
M'naago hätte lieber eine andere Antwort gehört. Aber dass Yda sie bei ihrem Kosenamen genannt hatte, freute sie sehr und war der Anfang einer innigen Freundschaft. Einer Freundschaft, die auch dann nicht zerbrechen sollte, als Yda ihre wahre Identität offenlegte. Die impulsive Faustkämpferin in dem feuerroten Kleid, fand M'naago, stand schon längst nicht mehr im Schatten ihres Vaters. Sie hatte es nur noch nicht gemerkt.