Unter dem klaren blauen Himmel gedachte Sphene des Toten mit einem stillen Gebet.
An diesem Ort, der obersten Ebene des Immerfrieds, war Zoraal Ja, der einstige Herrscher des Königreichs Neu-Alexandria, besiegt worden. Seitdem hatte sich hier einiges ereignet: zunächst der erbitterte Kampf gegen Calyx, dem es um ein Haar gelungen wäre, die Bewohner Alexandrias zu Endlosen zu machen, und schließlich die große Wiedererinnerung, durch die alle Bürger die Möglichkeit bekamen, ihre Erinnerungen an die Verstorbenen zurückzuerlangen. Ab jenem Zeitpunkt wurden an diesem Ort auf Wunsch der Hinterbliebenen wieder Gedenkveranstaltungen abgehalten, bei denen man Blumen niederlegte und den Verstorbenen gedachte. Als Königin nahm Sphene an jeder einzelnen Trauerfeier teil, zu der sie eingeladen wurde.
An diesem Ort, der obersten Ebene des Immerfrieds, war Zoraal Ja, der einstige Herrscher des Königreichs Neu-Alexandria, besiegt worden. Seitdem hatte sich hier einiges ereignet: zunächst der erbitterte Kampf gegen Calyx, dem es um ein Haar gelungen wäre, die Bewohner Alexandrias zu Endlosen zu machen, und schließlich die große Wiedererinnerung, durch die alle Bürger die Möglichkeit bekamen, ihre Erinnerungen an die Verstorbenen zurückzuerlangen. Ab jenem Zeitpunkt wurden an diesem Ort auf Wunsch der Hinterbliebenen wieder Gedenkveranstaltungen abgehalten, bei denen man Blumen niederlegte und den Verstorbenen gedachte. Als Königin nahm Sphene an jeder einzelnen Trauerfeier teil, zu der sie eingeladen wurde.

Das Königreich Neu-Alexandria war von einer riesigen, kuppelförmigen Barriere umgeben, unter der sich eine dichte Wolkendecke befand, durch die die Sonne niemals direkt zu sehen war. Nur auf der obersten Ebene des Immerfrieds, die hoch über den Gewitterwolken ragte, drang Sonnenlicht durch die Barriere und wurde dank feinster Partikel in der Atmosphäre gestreut, sodass der Himmel innerhalb der Kuppel trotzdem in einem leuchtenden Blau erstrahlte.
Die Gedenkfeier an jenem Tag verlief ohne Zwischenfälle, und die Angehörigen gedachten den Verstorbenen mit Erinnerungen an schöne, gemeinsame Zeiten, ehe sie sich schließlich wieder ihrem Alltag zuwandten. Als die Sonne langsam unterging und den Abendhimmel unter der Kuppel in rotes Licht tauchte, waren nur noch die Witwe, Sphene und einige Helfer übrig.
Der Verstorbene war ein Mann vom Volk der Tonawawta aus Xak Tural. Neben weißen Blumen standen auf dem Altar persönliche Gegenstände, die ihm zu Lebzeiten besonders wichtig gewesen waren, sowie verschiedene Erinnerungsstücke, die seine engsten Angehörigen mit ihm verbanden. Als Sphene gerade mit der trauernden Witwe sprechen wollte, fiel ihr Blick auf ein abgenutztes, in Leder gebundenes Buch.
„Das ... hat meinem Mann gehört. Er hat es bei einem Händler in Tuliyollal gekauft, bevor der Wall auftauchte. In dem Buch geht es um eine Abenteurergeschichte, die unsere Tochter über alles geliebt hat, als sie noch klein war. Deswegen findet man auch so einige ihrer selbstgemalten Kunstwerke darin ...“
Mit diesen Worten blätterte sie durch die Seiten, und Sphene musste unwillkürlich lächeln, als sie ein krakeliges Bild von ein paar zotteligen, fröhlich galoppierenden Rroneek erblickte.
„Da werden Erinnerungen wach ... In meinem Grimoire sind auch noch ein paar Zeichnungen zu finden, die ich vor langer Zeit hineingemalt habe.“
Sphene dachte an ihr altes Zauberbuch zurück, dessen Ränder sie mit Bildern von Tieren und Monstern geschmückt hatte. Sie hatte es einst von ihren Eltern bekommen, um eines Tages das beschützen zu können, was ihr wichtig war. Als Otis, der Großmeister der königlichen Ritter höchstpersönlich, die Zeichnungen sah, rief er mit zutiefst beeindruckter Stimme: „Ein Meisterwerk für die Ewigkeit!“, was die junge Sphene erröten ließ. Und auch die königliche Ritterin Zelenia, die man sonst nur mit ernstem Gesichtsausdruck kannte, musste bei dem Anblick lächeln und sagte: „Ihr könnt wirklich schön zeichnen, Eure Hoheit.“
Sphene spürte einen schmerzhaften Stich in ihrem Herzen und schloss die Augen, um die Erinnerungen an diese glücklichen Zeiten noch einen kleinen Augenblick länger zu bewahren.
„Wenn ich meine magischen Fähigkeiten verbessere, dann darf ich an eurer Seite kämpfen, ja?“
„Ihr macht täglich Fortschritte, so viel steht fest“, erwiderte Zelenia auf die Frage der jungen Prinzessin.
„Was redest du da?! Wir können auf keinen Fall zulassen, dass sich Prinzessin Sphene in Gefahr begibt!“, wandte sich Otis mit ungewohnt energischer Stimme an die Ritterin.
„So etwas könnt Ihr dann sagen, wenn es Euch gelungen ist, mich zu schlagen.“
„Hmpf ...“, grummelte Otis, ganz zur Belustigung der Prinzessin.
„Hihi, wir können uns doch darauf einigen, dass wir alle zusammen Alexandria verteidigen werden, wenn es zum Ernstfall kommt!“
So hatten sie sich einst vor längst vergangenen Zeiten das Versprechen gegeben, stets den Frieden in ihrem geliebten Alexandria zu bewahren, während am westlichen Abendhimmel hoch über ihnen die Sterne funkelten ...
Hastig verschloss Sphene die Erinnerungen, die nun immer schneller zurückkamen und überzuquellen drohten, wieder in ihrem Herzen und sah sich nach der jungen Künstlerin um, die sich im Buch ihres verstorbenen Vaters verewigt hatte. Die Mutter, die ihren suchenden Blick richtig gedeutet hatte, erzählte Sphene, dass ihre Tochter der Teilnahme an der Trauerfeier eine Absage erteilt hatte. Der Grund dafür sollen grundlegende Meinungsverschiedenheiten zum Thema Leben und Tod gewesen sein. Aus der traditionellen Sicht der Familie reisten Seelen, die den sterblichen Körper nach dem Tod verlassen hatten, in den Himmel und würden dort zu Sternen, die die weiteren Lebenswege der Hinterbliebenen hell erleuchteten.
„Nachdem ihre Erinnerungen an ihren Vater zurückgekehrt waren, muss sie sich wohl auch an diese Geschichte erinnert haben. Denn sie glaubte fest an die Legende der Sterne, von der in diesem Buch erzählt wird ...“
Sphene hob den Blick und suchte den Himmel vergeblich nach dem Abendstern ab. Anders als das Sonnenlicht konnte das Licht der Sterne nicht die magische Barriere durchdringen. Angesichts ihrer spirituellen Überzeugung war es daher nur verständlich, dass die Tochter Neu-Alexandria nicht als den passenden Ort für ihre Trauer um ihren Vater empfand.
Ihr Name war Wezikwe, und wenn man die vierhundert Jahre Tiefschlaf außer Acht ließ, war sie nicht sehr viel jünger als Sphene. So wie die Bürger und Bürgerinnen Alexandrias ihre eigene Sicht auf das Leben und den Tod hatten, hatten Leute aus anderen Gegenden ebenfalls ihre eigenen Überzeugungen. Nicht nur als Königin, die über ihr Volk wacht, sondern auch als Bürgerin konnte und wollte Sphene diese Tatsache nicht ignorieren. Den aufrichtigen Respekt gegenüber ihren Erinnerungen, der Sphene selbst entgegengebracht wurde, als sie aus ihrem jahrhundertelangen Schlaf erwacht war, wollte sie unbedingt weitergeben.
„Dürfte ich vielleicht mal mit Wezikwe sprechen?“
Mit der Zustimmung der Frau machte sich Sphene mit dem Fahrstuhl auf den Weg nach Lösung Neun, um von dort aus den Immerfried zu verlassen und sich auf Yyupyes Lichthof auf die Suche nach Wezikwe zu begeben, die zu dieser Tageszeit oft dort aushalf.
Kurz bevor sie den Scanpass erreichte, entschied sich Sphene, bei der Auskunft vorbeizuschauen und dort Leander einen kurzen Besuch abzustatten. Er war bekannt dafür, die Umgebung immer im Blick zu haben und sich Gesichter ausgesprochen gut merken zu können. Es konnte also sicherlich nicht schaden, ihn nach Wezikwe zu fragen.
„Ja, Wezikwe ist vorhin hier vorbeigekommen. Ich nehme an, dass sie wie üblich auf dem Weg zum Lichthof war. Allerdings wirkte sie ziemlich niedergeschlagen ...“
Dann reichte Leander Sphene zwei seiner allseits beliebten Engelspeisen, denen eine aufmunternde Wirkung nachgesagt wurde, und bat sie darum, sie mit Wezikwe zu teilen. Als Sphene nach ihrem Geldbeutel griff, winkte Leander lächelnd ab: „Wenn sich herumspricht, dass unsere Königin höchstpersönlich von der Engelspeise gekostet und sie für gut befunden hat, wird das automatisch mehr Besucher zu uns locken. Das ist Bezahlung genug!“ Er machte damit deutlich, dass er unter keinen Umständen Geld von ihr annehmen würde, und somit blieb Sphene nichts anderes übrig, als sich aufrichtig zu bedanken und ihre Suche fortzusetzen.
Sie verließ das Ewige Erbe, durchquerte die Außenbezirke und steuerte geradewegs auf Yyupyes Lichthof zu. Dort traf sie schließlich auf Mahuwsa, eine ihrer ersten wahren Vertrauten aus der Siedlung. Wenn jemand etwas über den Verbleib Wezikwes wissen würde, dann wohl die für den Lichthof zuständige Bäuerin, die alles und jeden hier stets im Blick hatte.
„Ich habe gehört, dass Wezikwe vor nicht allzu langer Zeit ihre Erinnerungen zurückbekommen hat. Seitdem ist sie oft hier und kümmert sich um die Rroneek. Das hat sicherlich damit zu tun, dass ihr Vater sie früher oft mit in den Stall gebracht hat. Wenn man bedenkt, dass die Arme ihn gerade erst verloren hat, muss diese Erinnerung besonders schwer auszuhalten sein ...“
Mahuwsa deutete auf den Stall. Sphenes Blick folgte ihrer Geste und blieb an der Gestalt eines zarten, in einer Ecke auf dem Boden kauernden Tonawawta-Mädchens hängen. Als ob es den Blick auf sich gespürt hätte, hob es nun langsam den Kopf. Ihre Augen waren rot und geschwollen vom Weinen, aber als sie Sphene erkannte, weiteten sie sich auf einmal vor Überraschung.
„Ih... Ihre Hoheit?!“
„Und du musst Wezikwe sein, nicht wahr? Bitte entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken! Deine Mutter hat mir von dir erzählt und ich wollte mich gerne mal mit dir persönlich unterhalten, wenn es dir nichts ausmacht.“
Sphene führte Wezikwe zu einem ruhigeren Platz etwas weiter abseits, und als sie dort schließlich nebeneinandersaßen, bot Sphene ihr eine der Engelspeisen an. Sie wählte ihre folgenden Worte mit Bedacht, um dem jungen Mädchen die Ehrfurcht und Scheu zu nehmen. Und es zeigte Wirkung: Nach und nach begann sie sich zu öffnen und ihre Gedanken und Gefühle mit Sphene zu teilen.
„Es hatte nichts mit der Zeremonie an sich zu tun, dass ich nicht teilnehmen wollte. Es ist nur ... Ich musste an ein Versprechen denken, das mein Papa und ich uns vor langer Zeit gegeben haben. Hoch über den Gewitterwolken leuchten und funkeln ganz viele Sterne. Das sind unsere Vorfahren, die ihre Reise im Himmel fortsetzen, nachdem sie ihre Aufgaben hier unten bei uns erfüllt haben. Von dort oben aus passen sie immer auf uns auf und schenken uns Kraft und Mut. Sie sind wirklich wichtig für uns. Deswegen haben Papa und ich uns versprochen, dass wir irgendwann zusammen die Sterne angucken gehen ...“
Doch bevor die beiden den Wall überwinden konnten, verstarb ihr Vater an einer Krankheit. All die Gefühle, die plötzlich auf sie einstürzten, brachten ihre Welt ins Wanken, und als sie erfuhr, dass man selbst von der letzten Ruhestätte aus die Sterne nicht sehen konnte, brachte sie es endgültig nicht mehr übers Herz, der Gedenkfeier ihres Vaters beizuwohnen. Da ihre Mutter etwa zur selben Zeit eine Wiedererinnerung durchmachte und mit ihren eigenen Erinnerungen und Gefühlen zu kämpfen hatte, konnte sich Wezikwe niemandem anvertrauen und fing stattdessen an, sich um die Rroneek zu kümmern, die ihr Vater auf dem Lichthof großgezogen hatte.
„Hätten wir uns doch nie dieses Versprechen gegeben ...“
Es war eine schmerzhafte Wahrheit: Auch wenn die Erinnerungen wieder da waren, brachte das die Verstorbenen nicht zurück.
Sphene versuchte sich vorzustellen, wie schwer es für den Vater gewesen sein muss, seine Tochter zurückzulassen, ohne dass er sein Versprechen vorher in die Tat umsetzen konnte. Ihrem anderen Ich – der Endlosen Sphene – muss es ganz ähnlich ergangen sein. Sicherlich hatte sie deshalb so verzweifelt versucht, ihr Volk auf ewig in der Lebenden Erinnerung zu erhalten. Doch gleichzeitig wusste Sphene, dass es das Wichtigste war, sich nicht von der Trauer überwältigen zu lassen und weiterzumachen. Denn oft liegt es in den Händen derjenigen, die unerfüllte Versprechen erben, sie später noch zu erfüllen.
„Dann ... Dann lass uns gemeinsam losziehen und uns die Sterne ansehen!“
Kurzerhand nahm Sphene die überrumpelte Wezikwe bei der Hand und marschierte los. Ihr war bewusst, dass eine Reise durch unbekannte Gegenden große Risiken barg, aber nun, da sie ihre magischen Kräfte zurückhatte, war sie sich sicher, potenzielle Angreifer vertreiben zu können. Doch mit einer Begegnung hatte Sphene nicht gerechnet ...
„He, Sphene! Was machst du denn hier?“
Diese wohlbekannte, dröhnende Stimme gehörte zu keiner Geringeren als Wuk Lamat, der Krone des Mutes des benachbarten Königreiches Tuliyollal. Hinter ihr tauchten nun auch ihr Bruder Koana, die Krone der Weisheit, und der junge Gulool Ja auf, auf den das Erbe seines Vaters und somit die schwerwiegende Verantwortung über das Maschinenheer Alexandrias übergegangen war. In dem Moment erinnerte sich Sphene an die Pläne für den folgenden Tag, an dem die Gedenkfeier für den gefallenen König Zoraal Ja abgehalten werden sollte. Dieser hatte so viel Leid über sein eigenes Volk gebracht, dass für seine Zeremonie nur die Teilnahme seiner engsten Vertrauten, darunter auch sein Sohn Gulool Ja, vorgesehen war.
„Wir konnten unsere offiziellen Pflichten etwas früher als geplant ruhen lassen, deswegen haben wir uns jetzt schon auf den Weg gemacht. Und eigentlich wollten wir direkt zu dir kommen! Hast du noch etwas zu erledigen?“
Kaum hatte Sphene den drei überrascht und fragend zugleich dreinblickenden Besuchern die Situation erklärt, verkündete Wuk Lamat auf ihre typische, kurzentschlossene Art: „Wenn das so ist, dann werden wir euch begleiten! Es kommt nicht in Frage, dass wir euch einfach alleine losziehen lassen. Außerhalb der Kuppel lauern zu viele Gefahren!“
Wezikwe verfolgte mit großen, ungläubigen Augen die Szene, die sich ihr bot: Die mächtigen Herrscher des Nachbarreiches bestanden darauf, sie, Wezikwe, und die Königin ihres eigenen Landes zu eskortieren – und zwar ihretwegen. Noch während sie mit diesem Gedanken kämpfte, wurde sie von König Koana mit ruhiger Stimme angesprochen:
„Dein Vater war auch ein geschätztes Mitglied unseres Volkes. Bitte erlaube uns, ihm diese letzte Ehre zu erweisen und das Versprechen einzulösen, das er dir einst gegeben hat.“
Und so begann die Reise dieser ungewöhnlichen Truppe, der zwei Königinnen, ein König und ein Thronanwärter angehörten. Vom Ewigen Erbe aus bewegten sie sich zunächst in Richtung Süden, bis sie schließlich den Außenposten erreichten und die Kuppel endgültig hinter sich ließen.
„Was ist denn jetzt los? Eben war der Himmel doch noch ganz klar ...“
Gulool Ja murmelte leise vor sich hin, während er nach oben blickte. Am abendlichen Himmel, der schon vom Licht der untergehenden Sonne gefärbt wurde, zogen auf einmal schwere, dunkle Wolken auf.
„Im Süden scheint das Wetter noch etwas besser zu sein. Wenn wir es schaffen könnten, Shaaloani rechtzeitig zu erreichen ...“
Bevor Koana seinen Satz beenden konnte, wurde er von Wezikwe unterbrochen.
„Es ist schon gut! Bitte lasst uns zurückkehren. Ich hätte niemals so etwas Egoistisches von euch verlangen dürfen ...“
Sphene nahm die Hände des Mädchens in ihre und sah ihr mit einem entschlossenen Blick in die Augen.
„Keine Sorge. Das ist noch lange kein Grund, aufzugeben!“
Mit diesen Worten warf sie Wuk Lamat einen vielsagenden Blick zu, woraufhin diese mit einem breiten Grinsen nickte. Es kostete sie nur einen kurzen Kontaktperlen-Anruf bei der Xak Tural Eisenbahngesellschaft, die die Eisenbahnstrecke zwischen Shaaloani und Alexandria betrieb, ehe Wuk Lamat mit triumphierender Stimme verkünden konnte:
„Die letzte Fahrt des Tages steht noch aus – und dreimal dürft ihr raten, wer noch Fahrkarten dafür ergattern konnte, hehe!“
Und so kam es, dass die Truppe den Bahnhof nur kurze Zeit später erreichte, wo bereits eine Erdseim-Lokomotive auf sie wartete. Die Lokführerin Nitowikwe lehnte sich aus dem Fenster und rief ihnen mit zuversichtlicher Stimme zu: „Na, dann bringe ich euch mal auf schnellstem Wege zur nächsten Wolkenlücke!“
Das war das erste Mal in ihrem Leben, dass Wezikwe einen Zug sah. Sphene und die anderen waren bereits eingestiegen, als sie das schüchterne Mädchen dazu ermutigten, es ihnen gleichzutun. Kurze Zeit später setzte sich die Lokomotive langsam in Bewegung und nahm nach und nach an Geschwindigkeit auf. Hinter ihnen wurde die Kuppel zusehends kleiner, bis man gerade noch so ihre Umrisse am Horizont ausmachen konnte. In dem Moment rief Gulool Ja mit aufgeregter Stimme:
„Wezikwe, guck mal, der Himmel! Die Wolken sind weg!“
Nun wurde der Zug langsamer, bis er schließlich mitten in der Wildnis zum Stehen kam. Mit vorsichtigen Schritten stieg Wezikwe aus und blickte nach oben. Der erste Sternenhimmel, den sie jemals erblicken sollte, war genau wie in dem Buch beschrieben: unendlich weit, und die Sterne funkelten so warm und lebhaft vor sich hin, als handelte es sich dabei um die lebendigen Abbilder ihrer verstorbenen Liebsten. Wezikwe war von dem Anblick so in den Bann gezogen, dass sie beinahe vergaß zu atmen, und ihren Blick nicht mehr abwenden konnte.
„Das sind Sterne ...?“
Unwillkürlich streckte sie ihre Hand in Richtung des Nachthimmels aus.
„Papa, siehst du das? Ich habe unser Versprechen eingelöst ...“
Während nun stille Tränen ihre Wangen hinabrollten, dachte auch Sphene an die vielen Versprechen, die sie den Bürgern Alexandrias gegeben hatte. Jene, die sie gehalten hatte, aber auch solche, die sie nicht halten konnte. Doch genau diese Versprechen waren es, die sie an die Zukunft, an das Hier und Jetzt gebunden hatten.
„Das Versprechen, das ich einst meinem anderen Ich gegeben hatte, hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin ...“
In diesem Moment war sich Sphene dessen ganz sicher und sie fasste einen Entschluss: Sie wollte die Zukunft Alexandrias auch weiterhin mit ihrem geliebten Volk teilen. All jene Erinnerungen, die den Sternen anvertraut worden waren, wollte sie in Ehren halten und sich mit aller Kraft für eine gemeinsame Zukunft einsetzen, die den Bürgern Alexandrias Freude schenkte und sie voller Hoffnung nach vorne blicken ließ. Das war ihr Versprechen an ihr Volk.
In dem Moment deutete Gulool Ja auf einen nahe gelegenen Hügel.
„Von dort oben kann man die Sterne bestimmt noch viel besser sehen!“
Und da stürmte er mit seinen kurzen Beinchen auch schon begeistert voraus, dicht gefolgt von Wuk Lamat und Koana. Lächelnd streckte Sphene Wezikwe ihre Hand entgegen.
„Worauf warten wir noch?“
Einen kurzen Moment lang blickte Wezikwe sie überrascht mit ihren großen, geröteten Augen an, ehe schließlich der Anflug eines Lächelns über ihr Gesicht huschte und sie Sphenes Hand ergriff.
Die Gedenkfeier an jenem Tag verlief ohne Zwischenfälle, und die Angehörigen gedachten den Verstorbenen mit Erinnerungen an schöne, gemeinsame Zeiten, ehe sie sich schließlich wieder ihrem Alltag zuwandten. Als die Sonne langsam unterging und den Abendhimmel unter der Kuppel in rotes Licht tauchte, waren nur noch die Witwe, Sphene und einige Helfer übrig.
Der Verstorbene war ein Mann vom Volk der Tonawawta aus Xak Tural. Neben weißen Blumen standen auf dem Altar persönliche Gegenstände, die ihm zu Lebzeiten besonders wichtig gewesen waren, sowie verschiedene Erinnerungsstücke, die seine engsten Angehörigen mit ihm verbanden. Als Sphene gerade mit der trauernden Witwe sprechen wollte, fiel ihr Blick auf ein abgenutztes, in Leder gebundenes Buch.
„Das ... hat meinem Mann gehört. Er hat es bei einem Händler in Tuliyollal gekauft, bevor der Wall auftauchte. In dem Buch geht es um eine Abenteurergeschichte, die unsere Tochter über alles geliebt hat, als sie noch klein war. Deswegen findet man auch so einige ihrer selbstgemalten Kunstwerke darin ...“
Mit diesen Worten blätterte sie durch die Seiten, und Sphene musste unwillkürlich lächeln, als sie ein krakeliges Bild von ein paar zotteligen, fröhlich galoppierenden Rroneek erblickte.
„Da werden Erinnerungen wach ... In meinem Grimoire sind auch noch ein paar Zeichnungen zu finden, die ich vor langer Zeit hineingemalt habe.“
Sphene dachte an ihr altes Zauberbuch zurück, dessen Ränder sie mit Bildern von Tieren und Monstern geschmückt hatte. Sie hatte es einst von ihren Eltern bekommen, um eines Tages das beschützen zu können, was ihr wichtig war. Als Otis, der Großmeister der königlichen Ritter höchstpersönlich, die Zeichnungen sah, rief er mit zutiefst beeindruckter Stimme: „Ein Meisterwerk für die Ewigkeit!“, was die junge Sphene erröten ließ. Und auch die königliche Ritterin Zelenia, die man sonst nur mit ernstem Gesichtsausdruck kannte, musste bei dem Anblick lächeln und sagte: „Ihr könnt wirklich schön zeichnen, Eure Hoheit.“
Sphene spürte einen schmerzhaften Stich in ihrem Herzen und schloss die Augen, um die Erinnerungen an diese glücklichen Zeiten noch einen kleinen Augenblick länger zu bewahren.
„Wenn ich meine magischen Fähigkeiten verbessere, dann darf ich an eurer Seite kämpfen, ja?“
„Ihr macht täglich Fortschritte, so viel steht fest“, erwiderte Zelenia auf die Frage der jungen Prinzessin.
„Was redest du da?! Wir können auf keinen Fall zulassen, dass sich Prinzessin Sphene in Gefahr begibt!“, wandte sich Otis mit ungewohnt energischer Stimme an die Ritterin.
„So etwas könnt Ihr dann sagen, wenn es Euch gelungen ist, mich zu schlagen.“
„Hmpf ...“, grummelte Otis, ganz zur Belustigung der Prinzessin.
„Hihi, wir können uns doch darauf einigen, dass wir alle zusammen Alexandria verteidigen werden, wenn es zum Ernstfall kommt!“
So hatten sie sich einst vor längst vergangenen Zeiten das Versprechen gegeben, stets den Frieden in ihrem geliebten Alexandria zu bewahren, während am westlichen Abendhimmel hoch über ihnen die Sterne funkelten ...
Hastig verschloss Sphene die Erinnerungen, die nun immer schneller zurückkamen und überzuquellen drohten, wieder in ihrem Herzen und sah sich nach der jungen Künstlerin um, die sich im Buch ihres verstorbenen Vaters verewigt hatte. Die Mutter, die ihren suchenden Blick richtig gedeutet hatte, erzählte Sphene, dass ihre Tochter der Teilnahme an der Trauerfeier eine Absage erteilt hatte. Der Grund dafür sollen grundlegende Meinungsverschiedenheiten zum Thema Leben und Tod gewesen sein. Aus der traditionellen Sicht der Familie reisten Seelen, die den sterblichen Körper nach dem Tod verlassen hatten, in den Himmel und würden dort zu Sternen, die die weiteren Lebenswege der Hinterbliebenen hell erleuchteten.
„Nachdem ihre Erinnerungen an ihren Vater zurückgekehrt waren, muss sie sich wohl auch an diese Geschichte erinnert haben. Denn sie glaubte fest an die Legende der Sterne, von der in diesem Buch erzählt wird ...“
Sphene hob den Blick und suchte den Himmel vergeblich nach dem Abendstern ab. Anders als das Sonnenlicht konnte das Licht der Sterne nicht die magische Barriere durchdringen. Angesichts ihrer spirituellen Überzeugung war es daher nur verständlich, dass die Tochter Neu-Alexandria nicht als den passenden Ort für ihre Trauer um ihren Vater empfand.
Ihr Name war Wezikwe, und wenn man die vierhundert Jahre Tiefschlaf außer Acht ließ, war sie nicht sehr viel jünger als Sphene. So wie die Bürger und Bürgerinnen Alexandrias ihre eigene Sicht auf das Leben und den Tod hatten, hatten Leute aus anderen Gegenden ebenfalls ihre eigenen Überzeugungen. Nicht nur als Königin, die über ihr Volk wacht, sondern auch als Bürgerin konnte und wollte Sphene diese Tatsache nicht ignorieren. Den aufrichtigen Respekt gegenüber ihren Erinnerungen, der Sphene selbst entgegengebracht wurde, als sie aus ihrem jahrhundertelangen Schlaf erwacht war, wollte sie unbedingt weitergeben.
„Dürfte ich vielleicht mal mit Wezikwe sprechen?“
Mit der Zustimmung der Frau machte sich Sphene mit dem Fahrstuhl auf den Weg nach Lösung Neun, um von dort aus den Immerfried zu verlassen und sich auf Yyupyes Lichthof auf die Suche nach Wezikwe zu begeben, die zu dieser Tageszeit oft dort aushalf.
Kurz bevor sie den Scanpass erreichte, entschied sich Sphene, bei der Auskunft vorbeizuschauen und dort Leander einen kurzen Besuch abzustatten. Er war bekannt dafür, die Umgebung immer im Blick zu haben und sich Gesichter ausgesprochen gut merken zu können. Es konnte also sicherlich nicht schaden, ihn nach Wezikwe zu fragen.
„Ja, Wezikwe ist vorhin hier vorbeigekommen. Ich nehme an, dass sie wie üblich auf dem Weg zum Lichthof war. Allerdings wirkte sie ziemlich niedergeschlagen ...“
Dann reichte Leander Sphene zwei seiner allseits beliebten Engelspeisen, denen eine aufmunternde Wirkung nachgesagt wurde, und bat sie darum, sie mit Wezikwe zu teilen. Als Sphene nach ihrem Geldbeutel griff, winkte Leander lächelnd ab: „Wenn sich herumspricht, dass unsere Königin höchstpersönlich von der Engelspeise gekostet und sie für gut befunden hat, wird das automatisch mehr Besucher zu uns locken. Das ist Bezahlung genug!“ Er machte damit deutlich, dass er unter keinen Umständen Geld von ihr annehmen würde, und somit blieb Sphene nichts anderes übrig, als sich aufrichtig zu bedanken und ihre Suche fortzusetzen.
Sie verließ das Ewige Erbe, durchquerte die Außenbezirke und steuerte geradewegs auf Yyupyes Lichthof zu. Dort traf sie schließlich auf Mahuwsa, eine ihrer ersten wahren Vertrauten aus der Siedlung. Wenn jemand etwas über den Verbleib Wezikwes wissen würde, dann wohl die für den Lichthof zuständige Bäuerin, die alles und jeden hier stets im Blick hatte.
„Ich habe gehört, dass Wezikwe vor nicht allzu langer Zeit ihre Erinnerungen zurückbekommen hat. Seitdem ist sie oft hier und kümmert sich um die Rroneek. Das hat sicherlich damit zu tun, dass ihr Vater sie früher oft mit in den Stall gebracht hat. Wenn man bedenkt, dass die Arme ihn gerade erst verloren hat, muss diese Erinnerung besonders schwer auszuhalten sein ...“
Mahuwsa deutete auf den Stall. Sphenes Blick folgte ihrer Geste und blieb an der Gestalt eines zarten, in einer Ecke auf dem Boden kauernden Tonawawta-Mädchens hängen. Als ob es den Blick auf sich gespürt hätte, hob es nun langsam den Kopf. Ihre Augen waren rot und geschwollen vom Weinen, aber als sie Sphene erkannte, weiteten sie sich auf einmal vor Überraschung.
„Ih... Ihre Hoheit?!“
„Und du musst Wezikwe sein, nicht wahr? Bitte entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken! Deine Mutter hat mir von dir erzählt und ich wollte mich gerne mal mit dir persönlich unterhalten, wenn es dir nichts ausmacht.“
Sphene führte Wezikwe zu einem ruhigeren Platz etwas weiter abseits, und als sie dort schließlich nebeneinandersaßen, bot Sphene ihr eine der Engelspeisen an. Sie wählte ihre folgenden Worte mit Bedacht, um dem jungen Mädchen die Ehrfurcht und Scheu zu nehmen. Und es zeigte Wirkung: Nach und nach begann sie sich zu öffnen und ihre Gedanken und Gefühle mit Sphene zu teilen.
„Es hatte nichts mit der Zeremonie an sich zu tun, dass ich nicht teilnehmen wollte. Es ist nur ... Ich musste an ein Versprechen denken, das mein Papa und ich uns vor langer Zeit gegeben haben. Hoch über den Gewitterwolken leuchten und funkeln ganz viele Sterne. Das sind unsere Vorfahren, die ihre Reise im Himmel fortsetzen, nachdem sie ihre Aufgaben hier unten bei uns erfüllt haben. Von dort oben aus passen sie immer auf uns auf und schenken uns Kraft und Mut. Sie sind wirklich wichtig für uns. Deswegen haben Papa und ich uns versprochen, dass wir irgendwann zusammen die Sterne angucken gehen ...“
Doch bevor die beiden den Wall überwinden konnten, verstarb ihr Vater an einer Krankheit. All die Gefühle, die plötzlich auf sie einstürzten, brachten ihre Welt ins Wanken, und als sie erfuhr, dass man selbst von der letzten Ruhestätte aus die Sterne nicht sehen konnte, brachte sie es endgültig nicht mehr übers Herz, der Gedenkfeier ihres Vaters beizuwohnen. Da ihre Mutter etwa zur selben Zeit eine Wiedererinnerung durchmachte und mit ihren eigenen Erinnerungen und Gefühlen zu kämpfen hatte, konnte sich Wezikwe niemandem anvertrauen und fing stattdessen an, sich um die Rroneek zu kümmern, die ihr Vater auf dem Lichthof großgezogen hatte.
„Hätten wir uns doch nie dieses Versprechen gegeben ...“
Es war eine schmerzhafte Wahrheit: Auch wenn die Erinnerungen wieder da waren, brachte das die Verstorbenen nicht zurück.
Sphene versuchte sich vorzustellen, wie schwer es für den Vater gewesen sein muss, seine Tochter zurückzulassen, ohne dass er sein Versprechen vorher in die Tat umsetzen konnte. Ihrem anderen Ich – der Endlosen Sphene – muss es ganz ähnlich ergangen sein. Sicherlich hatte sie deshalb so verzweifelt versucht, ihr Volk auf ewig in der Lebenden Erinnerung zu erhalten. Doch gleichzeitig wusste Sphene, dass es das Wichtigste war, sich nicht von der Trauer überwältigen zu lassen und weiterzumachen. Denn oft liegt es in den Händen derjenigen, die unerfüllte Versprechen erben, sie später noch zu erfüllen.
„Dann ... Dann lass uns gemeinsam losziehen und uns die Sterne ansehen!“
Kurzerhand nahm Sphene die überrumpelte Wezikwe bei der Hand und marschierte los. Ihr war bewusst, dass eine Reise durch unbekannte Gegenden große Risiken barg, aber nun, da sie ihre magischen Kräfte zurückhatte, war sie sich sicher, potenzielle Angreifer vertreiben zu können. Doch mit einer Begegnung hatte Sphene nicht gerechnet ...
„He, Sphene! Was machst du denn hier?“
Diese wohlbekannte, dröhnende Stimme gehörte zu keiner Geringeren als Wuk Lamat, der Krone des Mutes des benachbarten Königreiches Tuliyollal. Hinter ihr tauchten nun auch ihr Bruder Koana, die Krone der Weisheit, und der junge Gulool Ja auf, auf den das Erbe seines Vaters und somit die schwerwiegende Verantwortung über das Maschinenheer Alexandrias übergegangen war. In dem Moment erinnerte sich Sphene an die Pläne für den folgenden Tag, an dem die Gedenkfeier für den gefallenen König Zoraal Ja abgehalten werden sollte. Dieser hatte so viel Leid über sein eigenes Volk gebracht, dass für seine Zeremonie nur die Teilnahme seiner engsten Vertrauten, darunter auch sein Sohn Gulool Ja, vorgesehen war.
„Wir konnten unsere offiziellen Pflichten etwas früher als geplant ruhen lassen, deswegen haben wir uns jetzt schon auf den Weg gemacht. Und eigentlich wollten wir direkt zu dir kommen! Hast du noch etwas zu erledigen?“
Kaum hatte Sphene den drei überrascht und fragend zugleich dreinblickenden Besuchern die Situation erklärt, verkündete Wuk Lamat auf ihre typische, kurzentschlossene Art: „Wenn das so ist, dann werden wir euch begleiten! Es kommt nicht in Frage, dass wir euch einfach alleine losziehen lassen. Außerhalb der Kuppel lauern zu viele Gefahren!“
Wezikwe verfolgte mit großen, ungläubigen Augen die Szene, die sich ihr bot: Die mächtigen Herrscher des Nachbarreiches bestanden darauf, sie, Wezikwe, und die Königin ihres eigenen Landes zu eskortieren – und zwar ihretwegen. Noch während sie mit diesem Gedanken kämpfte, wurde sie von König Koana mit ruhiger Stimme angesprochen:
„Dein Vater war auch ein geschätztes Mitglied unseres Volkes. Bitte erlaube uns, ihm diese letzte Ehre zu erweisen und das Versprechen einzulösen, das er dir einst gegeben hat.“
Und so begann die Reise dieser ungewöhnlichen Truppe, der zwei Königinnen, ein König und ein Thronanwärter angehörten. Vom Ewigen Erbe aus bewegten sie sich zunächst in Richtung Süden, bis sie schließlich den Außenposten erreichten und die Kuppel endgültig hinter sich ließen.
„Was ist denn jetzt los? Eben war der Himmel doch noch ganz klar ...“
Gulool Ja murmelte leise vor sich hin, während er nach oben blickte. Am abendlichen Himmel, der schon vom Licht der untergehenden Sonne gefärbt wurde, zogen auf einmal schwere, dunkle Wolken auf.
„Im Süden scheint das Wetter noch etwas besser zu sein. Wenn wir es schaffen könnten, Shaaloani rechtzeitig zu erreichen ...“
Bevor Koana seinen Satz beenden konnte, wurde er von Wezikwe unterbrochen.
„Es ist schon gut! Bitte lasst uns zurückkehren. Ich hätte niemals so etwas Egoistisches von euch verlangen dürfen ...“
Sphene nahm die Hände des Mädchens in ihre und sah ihr mit einem entschlossenen Blick in die Augen.
„Keine Sorge. Das ist noch lange kein Grund, aufzugeben!“
Mit diesen Worten warf sie Wuk Lamat einen vielsagenden Blick zu, woraufhin diese mit einem breiten Grinsen nickte. Es kostete sie nur einen kurzen Kontaktperlen-Anruf bei der Xak Tural Eisenbahngesellschaft, die die Eisenbahnstrecke zwischen Shaaloani und Alexandria betrieb, ehe Wuk Lamat mit triumphierender Stimme verkünden konnte:
„Die letzte Fahrt des Tages steht noch aus – und dreimal dürft ihr raten, wer noch Fahrkarten dafür ergattern konnte, hehe!“
Und so kam es, dass die Truppe den Bahnhof nur kurze Zeit später erreichte, wo bereits eine Erdseim-Lokomotive auf sie wartete. Die Lokführerin Nitowikwe lehnte sich aus dem Fenster und rief ihnen mit zuversichtlicher Stimme zu: „Na, dann bringe ich euch mal auf schnellstem Wege zur nächsten Wolkenlücke!“
Das war das erste Mal in ihrem Leben, dass Wezikwe einen Zug sah. Sphene und die anderen waren bereits eingestiegen, als sie das schüchterne Mädchen dazu ermutigten, es ihnen gleichzutun. Kurze Zeit später setzte sich die Lokomotive langsam in Bewegung und nahm nach und nach an Geschwindigkeit auf. Hinter ihnen wurde die Kuppel zusehends kleiner, bis man gerade noch so ihre Umrisse am Horizont ausmachen konnte. In dem Moment rief Gulool Ja mit aufgeregter Stimme:
„Wezikwe, guck mal, der Himmel! Die Wolken sind weg!“
Nun wurde der Zug langsamer, bis er schließlich mitten in der Wildnis zum Stehen kam. Mit vorsichtigen Schritten stieg Wezikwe aus und blickte nach oben. Der erste Sternenhimmel, den sie jemals erblicken sollte, war genau wie in dem Buch beschrieben: unendlich weit, und die Sterne funkelten so warm und lebhaft vor sich hin, als handelte es sich dabei um die lebendigen Abbilder ihrer verstorbenen Liebsten. Wezikwe war von dem Anblick so in den Bann gezogen, dass sie beinahe vergaß zu atmen, und ihren Blick nicht mehr abwenden konnte.
„Das sind Sterne ...?“
Unwillkürlich streckte sie ihre Hand in Richtung des Nachthimmels aus.
„Papa, siehst du das? Ich habe unser Versprechen eingelöst ...“
Während nun stille Tränen ihre Wangen hinabrollten, dachte auch Sphene an die vielen Versprechen, die sie den Bürgern Alexandrias gegeben hatte. Jene, die sie gehalten hatte, aber auch solche, die sie nicht halten konnte. Doch genau diese Versprechen waren es, die sie an die Zukunft, an das Hier und Jetzt gebunden hatten.
„Das Versprechen, das ich einst meinem anderen Ich gegeben hatte, hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin ...“
In diesem Moment war sich Sphene dessen ganz sicher und sie fasste einen Entschluss: Sie wollte die Zukunft Alexandrias auch weiterhin mit ihrem geliebten Volk teilen. All jene Erinnerungen, die den Sternen anvertraut worden waren, wollte sie in Ehren halten und sich mit aller Kraft für eine gemeinsame Zukunft einsetzen, die den Bürgern Alexandrias Freude schenkte und sie voller Hoffnung nach vorne blicken ließ. Das war ihr Versprechen an ihr Volk.
In dem Moment deutete Gulool Ja auf einen nahe gelegenen Hügel.
„Von dort oben kann man die Sterne bestimmt noch viel besser sehen!“
Und da stürmte er mit seinen kurzen Beinchen auch schon begeistert voraus, dicht gefolgt von Wuk Lamat und Koana. Lächelnd streckte Sphene Wezikwe ihre Hand entgegen.
„Worauf warten wir noch?“
Einen kurzen Moment lang blickte Wezikwe sie überrascht mit ihren großen, geröteten Augen an, ehe schließlich der Anflug eines Lächelns über ihr Gesicht huschte und sie Sphenes Hand ergriff.







